Zähl nicht die Stunden
gut« , sagte ihre Mutter leise. »Meine Tochter hat mich gerade darüber informiert, dass sie stirbt. Hast du vielleicht geglaubt, es würde mir gut gehen?«
»Ich wollte nicht –«
»Ich wusste, dass irgendwas war«, sagte ihre Mutter, weiter
entschlossen ins Nichts starrend. »Ich meine , warum sonst der plötzliche Sinneswandel , Kim zu erlauben, einen Hund zu haben? Und wann hast du mich zum letzten Mal angerufen, um zu sagen, dass du
vorbeikommen wolltest? Nie. Also wusste ich, dass irgendwas war. Ich dachte, du würdest mir vielleicht erzählen, dass ihr nach New York oder Kalifornien zieht, nachdem Jake jetzt so ein bedeutender Mann
geworden ist, oder dass er dich wegen einer anderen Frau verlässt. Das Übliche halt. Irgendwas. Irgendwas anderes. Jedenfalls nicht das. Nicht das.«
»Mama, sieh mich an.«
»Es ist nie das, was man erwartet«, fuhr ihre Mutter fort, als hätte sie Mattie nicht gehört. »Wenn jemand dir eröffnet, dass er dir etwas sagen muss, versuchst du zu erraten was und gehst alle Möglichkeiten durch, und trotzdem ist es am Ende immer das, was du dir nicht vorgestellt hast, die eine Möglichkeit, die du nicht bedacht hast. So geht es doch immer, findest du nicht auch?«
»Mama«, wiederholte Mattie , »bitte sieh mich an.«
»Es ist nicht fair , dass du mir das antust.«
»Es geht nicht um dich«, erwiderte Mattie schlicht, beugte sich vor, fasste das Kinn ihrer Mutter und zwang sie, sie anzusehen. Der Hund im Schoß ihrer Mutter knurrte leise. »Du musst mir zuhören. Einmal in
meinem Leben brauche ich deine volle, ungeteilte Aufmerksamkeit. Ist das möglich?«
Wortlos setzte ihre Mutter den immer noch knurrenden Hund zu
Boden.
»Im Augenblick befinde ich mich noch in einem frühen Stadium der
Krankheit und komme ziemlich gut zurecht. Ich kann nach wie vor
arbeiten und die meisten Dinge erledigen , die ich vorher auch erledigt habe. Auto fahre ich natürlich nicht mehr , stattdessen nehme ich oft ein Taxi, und Jake und ich haben angefangen , den Einkauf gemeinsam zu machen. Kim hilft , wo sie kann –«
»Kim weiß es?«
Mattie nickte. »Es war sehr schwierig für sie. Sie versteckt sich hinter einer rauen Fassade, aber ich weiß, dass sie eine schwere Zeit
durchmacht.«
»Deswegen hast du ihr einen Hund erlaubt.«
»Wir haben gehofft, dass es ihr helfen würde, den Schmerz zu lindern , wenn wir ihr etwas schenken , dem sie ihre Aufmerksamkeit widmen kann.«
»Sie ist ein braves Mädchen.«
»Das weiß ich.« Mattie kämpfte mit den Tränen. Aber es war wichtig,
dass sie ohne Tränen durch den Rest der Tagesordnung kam.
»Was soll ich machen? Sie kann gern ein paar Wochen zu mir
kommen. Kim hat mir erzählt, dass du mit Jake im April nach Paris fliegen willst. Dann würde ich sie gern zu mir nehmen«, sagte ihre
Mutter , das größere Bild bewusst ausblendend , ihre traditionelle Methode, mit Krisen umzugehen. Sich auf eine unbedeutende
Nebensächlichkeit konzentrieren und sie so lange aufblasen, bis sie alles andere überdeckt.
»Darüber können wir später reden«, sagte Mattie. »Im Augenblick
brauche ich dich, Mama. Nicht Kim.«
»Ich verstehe nicht.« Wieder wanderte der Blick ihrer Mutter zum
Fenster. »Soll ich Erledigungen für dich machen?«
Mattie schüttelte den Kopf. Wie konnte sie ihrer Mutter begreiflich
machen, worum sie sie bitten wollte? Ein mittelgroßer schwarzer Hund sprang auf das Sofa, machte es sich auf dem Polster neben Mattie
bequem und betrachtete sie mit einem argwöhnischen Blick aus halb
geschlossenen Augen. »Erinnerst du dich noch an den Hund, den wir
hatten, als ich fünf war?«, fragte Mattie. »Er hieß Queenie. Erinnerst du dich an Queenie?«
»Natürlich erinnere ich mich an Queenie. Du hast sie immer über
deine Schultern geworfen und an den Hinterbeinen baumeln lassen, und sie hat sich nie beschwert. Sie hat sich von dir alles gefallen lassen.«
»Und dann wurde sie krank, und du hast gesagt, wir müssten sie
einschläfern, und ich habe geweint und dich angefleht, es nicht zu tun.«
»Das ist schon sehr lange her, Martha. Du kannst doch nach all den
Jahren nicht noch immer böse auf mich sein. Sie war sehr krank. Sie hat Schmerzen gelitten.«
»Und sie hat dich mit diesen Augen angesehen, hast du gesagt, diesen Augen, die dir gesagt haben, dass es an der Zeit war, sie von ihrem Elend zu erlösen , weil es grausam wäre, sie am Leben zu lassen.«
Ihre Mutter rutschte unruhig auf ihrem Sessel hin und her.
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