Zähl nicht die Stunden
versagte
ihr plötzlich den Dienst , ihre Finger, die den Pinsel hielten, öffneten sich, und dieser fiel ihr aus der Hand. Sie stand da und starrte auf ihre Finger, die zitterten wie von unsichtbaren Winden geschüttelt. »Lieber Gott«, sagte sie. »Das ist nicht wahr. Das ist nicht wahr.« Du bist nur total von der Rolle, weil du vorhin diesen hirnverbrannten Quatsch gemacht hast. Das ist alles. Atme tief durch. Und noch mal. Bleib ruhig.
Du wirst dich gleich wieder beruhigen. Das ist wirklich kein Grund, die Fassung zu verlieren. Du nimmst regelmäßig deine Tabletten. Du wirst nicht sterben. Du fliegst im April nach Paris. Mit deinem Mann
zusammen. »Du wirst nicht sterben.«
Mit beiden Händen nahm Mattie den Zylinder mit dem
Wimpernbürstchen aus dem Waschbecken. Langsam und sorgfältig trug
sie die Tusche auf ihre Wimpern auf. »Das ist doch schon viel besser«, sagte sie, als das Zittern allmählich nachließ. »Du bist nur müde und durcheinander – und unheimlich scharf«, bekannte sie sich lachend. »Dir zittern immer die Hände, wenn du scharf bist.«
Hier wird sich ab heute einiges ändern , beschloss sie. Angefangen mit einem Hauch Wimperntusche. Weiter mit einem Glas Wein zum
Abendessen. Vielleicht einem Mitternachtsbesuch im Gästezimmer. Sie
hatte nie Mühe gehabt, Jake Hart zu verführen. Aber es war natürlich Jake gewesen, nicht Jason. Diesen Jason kannte sie überhaupt nicht.
Sie hörte das Surren des Garagentors. »Sie sind da«, verkündete sie
ihrem Spiegelbild, zufrieden mit ihrem Aussehen. Sehr zufrieden sogar!
Sie hielt die Hände vor ihr Gesicht, um sich zu vergewissern, dass sie nicht mehr zitterten. Dann fuhr sie sich noch einmal durch die Haare, straffte unter ihrem roten Pulli die Schultern, hob den Kopf und machte sich auf den Weg nach unten.
Sie war fast da, als sie hörte, wie die Haustür aufflog, und ihr Mann und ihre Tochter hereinstürmten.
»Es reicht!«, schrie Kim wütend. »Ich will nichts mehr hören.«
»Augenblick mal«, brüllte Jake zurück. »Ich bin noch nicht fertig mit dir!«
»Aber ich mit dir!«
»Das sehe ich anders.«
»Was ist denn los?« Mattie hatte den Fuß der Treppe erreicht, als Kim und Jake ins Blickfeld kamen. Sie sehen ja zum Fürchten aus, dachte sie.
Ihre Augen schleuderten Blitze, ihre Gesichter waren zorngerötet. »Was ist denn passiert?« »Dad ist gerade total ausgerastet.« Kim warf die Arme hochund nahm Kurs auf die Küche.
»Wohin willst du?« , rief Jake ihr scharf nach.
»Ich wollte mir nur ein Glas Wasser holen , wenn’s dir recht ist.« Die Verachtung in Kims Ton war nicht zu überhören. Was zum Teufel ist da passiert , fragte sich Mattie und sah Jake Hilfe suchend an.
»Sie ist doch tatsächlich mit Marihuana in der Tasche in den
Gerichtssaal marschiert. Ist das zu fassen?« Jakes Miene war so empört wie der Ton seiner Stimme.
»Was? Nein! Das ist doch nicht möglich!«
»Wie kann ein Mensch nur so unglaublich blöd sein« , rief Jake erregt.
»Das hast du jetzt schon mindestens hundert Mal gesagt« , schrie Kim aus der Küche.
»Ich versteh das nicht«, sagte Mattie. »Das kann doch nur ein Irrtum sein.«
»Der Irrtum war, dass wir unsere Tochter wie einen
verantwortungsbewussten Menschen behandelt haben.«
»Verantwortungsbewusst?«, rief Kim wütend. »Wie du, meinst du
wohl?«
»Bitte, Jake. Sag mir endlich, was passiert ist.«
»Kannst du dir vorstellen, was geschehen wäre, wenn man sie
erwischt hätte?«
»Ja, stell dir die Schande vor«, höhnte Kim, die an der Küchentür
stand, und hob spöttisch ihr Glas wie zum Toast.
»Du hättest festgenommen werden können. Du hättest angeklagt
werden und ins Jugendgefängnis wandern können.«
»Würde mir jetzt endlich jemand erklären , was passiert ist!« Mattie war den Tränen nahe.
»Gar nichts ist passiert«, antwortete Kim verächtlich. »Dad regt sich wegen nichts und wieder nichts auf.«
»Du hast im Gerichtsgebäude Marihuana geraucht?«, fragte Mattie
ungläubig. Kim lachte. »Wohl kaum.«
»Nein«, sagte Jake. »Diese kleine Nummer hat sie sich für das
Restaurant aufgespart.« Er begann, vor Mattie auf und ab zu gehen. »Ich nehme sie mit rüber zu Fredo –«
»- ein ätzender Laden«, warf Kim ein.
»- und sie benimmt sich wie ein verwöhnter Fratz –«
»Hey, ich wollte da überhaupt nicht hin. Das war doch alles deine
Idee.«
»Das ganze Restaurant ist voller Anwälte und Polizisten, und da geht sie in die Toilette
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