Zaertlich beginnt die Nacht
zumindest nach außen. „Aber du sagtest doch, Großvater, dass ich die Bank übernehmen soll.“
„Ich sagte, jemand, der kompetent ist, wird die Bank übernehmen. Jemand, der in meinem Sinne handelt.“
„Nun …“ Der Ausdruck auf seinem Gesicht ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. „Du meinst doch nicht etwa … Bradley?“
Bradley war ihr Cousin zweiten Grades. Glaubte sie jedenfalls. Wer konnte schon die komplizierten Familienverhältnisse nachvollziehen? Seit Jahren trieb Bradley sich in der Bank herum, war während der Sommer ebenso als Praktikant angetreten wie Aimee. Nur, dass er nie auch nur einen Handschlag getan hatte – außer Aimee im Kopierraum zu begrapschen.
„Nicht Bradley“, brachte sie schließlich hervor.
„Bradley hat einen Abschluss in Wirtschaft.“
Richtig. Von einem College, auf dem man wahrscheinlich auch einen Abschluss in Korbflechten machen konnte.
„Er ist eloquent und gewandt.“
Stimmt, nach dem dritten Drink auf jeden Fall.
„Und“, die schweren Geschütze fuhr James Black erst zum Schluss auf, „er ist ein Mann.“
Also die Krone der Schöpfung. Ein Prinz, während sie als Frau nur ein niederes Wesen war.
Ihr Großvater hatte sich erhoben. Das Zeichen, dass ihr seine Gegenwart nicht länger gewährt wurde. „Sei am Montagmorgen hier. Punkt zehn. Dann verkünde ich meine Entscheidung.“
Sie war entlassen. Einfach so.
Danach war sie blind durch die Straßen geeilt, ohne auf diesen Mann zu achten. Dieser schreckliche Typ, der sie fast umgerannt hatte und dann auch noch behauptete, es sei ihre Schuld gewesen. Der angezweifelt hatte, dass sie überhaupt eine Frau war, wenn doch allein diese Tatsache ihr das Einzige vorenthielt, was sie sich ihr Leben lang gewünscht hatte.
Und dafür hatte sie zwei großartige Jobangebote ausgeschlagen, weil sie absolut sicher gewesen war, … nein, wie hatte sie nur so dumm sein können!
Innerlich hatte sie geflucht, und das war der Moment gewesen, als dieser Grobian in sie hineingerannt war. Als wäre sie unsichtbar. Oh, das war sie zweifelsohne, schließlich war sie ja eine Frau!
Die Arroganz der Männer! „Langsam“, hatte er gesagt und gelächelt. So als würden diese samtene Stimme mit dem Hauch eines Akzents, breite Schultern, pechschwarzes Haar und dunkelblaue Augen ein solches Benehmen entschuldigen!
Sie hatte ihm ihre Meinung gesagt. Aber Männer vertrugen die Wahrheit nicht, das hatte sie schon vor langer Zeit gelernt. Und dieser unmögliche Kerl hatte sie auch noch geküsst, so als wolle er ihr eine Lektion erteilen!
Geküsst! Er hatte seinen Mund auf ihre Lippen gepresst, dieser Widerling!
Seinen festen, wunderbar warmen Mund, der zum Küssen geschaffen schien, geschaffen für lange, leidenschaftliche Küsse, die einem den Atem raubten …
Grundgütiger, sie war wirklich in einer miserablen Verfassung. Wut, Frust, Adrenalin – wie immer man das nannte, es pumpte auf jeden Fall wild durch ihre Adern.
Ein Mann würde jetzt in einen Fitnessclub gehen und den Stress ausschwitzen. Bei ihr würde es auch helfen, aber ihr Club – ein Club nur für Frauen – hatte geschlossen. He, es war Samstag. Der Abend, an dem Frauen auf Partys und zu Verabredungen gingen, richtig?
„So ein Quatsch“, schimpfte Aimee laut vor sich hin.
Ein Mann würde sich mit seinen Kumpels in einer lauten Kneipe treffen und sich mit Bier volllaufen lassen. Das taten Männer doch, wenn sie Stress hatten, oder? Ausgehen, sich betrinken, über völlig idiotische Dinge reden und Frauen anmachen.
Sex sei schließlich ideal zum Entspannen. Jeder sagte das. Aimee nicht. Sie hatte Sex gehabt, und es war alles andere als eine Offenbarung gewesen. Aber heutzutage stand überall zu lesen, dass Sex der wirksamste Stressabbauer sei.
Aimee schnaubte. Man stelle sich vor, eine Frau würde das machen. Eine Freundin anrufen, in eine Bar gehen und sich bei einem Drink einen Mann aussuchen, mit dem sie ins Bett gehen würde. Keine Bindungen, keine Verpflichtungen, kein albernes Austauschen von Telefonnummern.
Nur purer, unverfälschter Sex.
Manche Frauen taten das. Sex mit einem Fremden.
Mit einem Fremden mit schwarzem Haar und blauen Augen. Mit markantem Kinn, gerader Nase, festem Mund und dem Hauch eines Akzents …
Das Läuten des Telefons riss Aimee aus ihren absurden Gedanken. Der Anrufbeantworter sprang an. Gut, sollte er nur.
„Aimee, hi, Jen hier. Hör zu, ich weiß, das ist nicht unbedingt dein Stil, aber … Da hat ein neuer
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