Zaertlich beginnt die Nacht
Man war schließlich in New York. In New York lernte man sehr früh, dass es klüger war, nie etwas zu sehen.
Sein Glück. Dieser Kuss reichte völlig, um die Frau herauszufordern, die Polizei einzuschalten …
Nicolo schüttelte sich leicht. Wie dumm konnte ein Mann sein? Diese kleine Episode könnte sein Gesicht auf die Titelseiten bringen. Nicht unbedingt die Publicity, die er vor dem Meeting mit dem neunzigjährigen Eigner einer alteingesessenen Investmentbank gebrauchen konnte.
Der kühle Märzregen fiel immer stärker. Der Portier hielt bereits Nicolos Aktenkoffer in der Hand. Nicolo nahm ihn entgegen und betrat das Hotel.
Die Suite lag im dreiundvierzigsten Stock. Von hier aus hatte man einen fantastischen Blick auf den Park und die New Yorker Skyline. Sollte Nicolo sich eine Wohnung in der Stadt suchen, dann nur eine mit einem solchen Ausblick. Er warf seinen Regenmantel über einen Stuhl. Falls alles lief wie geplant, würde er nach dem Meeting am Montag einen Immobilienmakler kontaktieren.
Falls? Dieses Wort existierte normalerweise nicht in seinem Wortschatz. Er fing nie etwas an, ohne sich nicht absolut sicher zu sein, dass er sein Ziel auch erreichen würde. Diese Einstellung war der Schlüssel zu seinem Erfolg.
Nicolo streifte die Schuhe von den Füßen, zog sich aus und ging ins Bad.
Er war bestens vorbereitet für Montag und die Übernahme von „Stafford-Coleridge-Black“. Schließlich war er Herr über ein riesiges Finanzimperium, mit Vertretungen in London, Paris, Singapur und natürlich Rom. Und jetzt wurde es Zeit für „Barbieri International“, auch auf dem New Yorker Markt aufzutrumpfen. Und dafür hatte Nicolo ein Juwel auserkoren, das sich bestens in seiner Krone machen würde. Was Privatbanken anbelangte, so las sich die Kundenliste von Stafford-Coleridge-Black wie das „Who is Who“ der amerikanischen High Society.
Nur noch ein Stolperstein stand im Weg – der Vorsitzende von SCB, James Black.
„Ich wüsste nicht, was wir beide zu besprechen haben“, sagte der alte Mann, als er endlich Nicolos Anruf entgegennahm.
„Es gibt Gerüchte, dass Sie an eine Veränderung denken, Sir“, hatte Nicolo vorsichtig geantwortet.
Black gab einen Laut von sich, der an ein Lachen erinnerte. „Sie meinen, Sie haben gehört, dass ich bald sterbe. Nun, das habe ich nicht vor.“
„Was ich gehört habe, ist, dass ein Mann mit Ihrem Urteilsvermögen immer vorausplant.“
„Touché, Signore Barbieri. Aber ich kann Ihnen versichern, alle Veränderungen, die ich vorzunehmen gedenke, sind von geringem Interesse für Sie. Unsere Bank ist ein Familienunternehmen, von einer Generation an die nächste weitergegeben, seit über zweihundert Jahren.“ Er machte eine kunstvolle kleine Pause, dann fuhr er fort: „Aber ich erwarte gar nicht, dass Sie die Tragweite dieser Tatsache verstehen.“
Nur gut, dass sie sich zu diesem Zeitpunkt nicht gegenübergesessen hatten. Selbst am Telefon hatte Nicolo Mühe gehabt, sein Temperament zu zügeln. Black war ein alter Mann, aber im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte. Diese Bemerkung hatte er absichtlich fallen lassen, eine nur hauchdünn kaschierte Beleidigung.
In diesen Sphären glich die Finanzwelt einem exklusiven Club. Man wusste alles über den anderen, und Black wusste, dass Nicolo Barbieris Reichtum, trotz des Titels, nicht etwa aus einem Erbe stammte, sondern durch eigene Arbeit geschaffen worden war. Was die Blacks dieser Welt anging, so war das nichts Erstrebenswertes.
Ebenso wenig erstrebenswert wie wütende Blondinen auf der Fifth Avenue, dachte Nicolo jetzt und wunderte sich, woher dieser Gedanke kam. Alles, was zählte, war das Treffen mit Black am Montag.
So wie es auch bei dem Anruf nur gezählt hatte, dass Nicolo völlig neutral geblieben war. „Oh, ich verstehe durchaus“, hatte er ruhig erwidert. „Ich lege großen Wert auf Tradition. Zudem bin ich überzeugt, dass Sie Ihrem Unternehmen keinen Gefallen tun, wenn Sie sich meinen Vorschlag nicht wenigstens anhören.“
Denn SCB hatte Probleme, gerade weil die Bank von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Der alte Mann feierte demnächst seinen neunzigsten Geburtstag, und der einzige Erbe war ein Enkelkind, das noch die Schulbank drückte.
Und ein Mädchen war. Männer wie Black zogen es vor, das Ruder einem Erben zu überlassen, nicht einer Erbin.
Und genau darauf würde Nicolo am Montag aufbauen. Auf eine Sache, bei der sich der Alte und er grundsätzlich einig waren.
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