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Zaertlich ist die Nacht

Zaertlich ist die Nacht

Titel: Zaertlich ist die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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Abendessen im verlassenen Speisesaal und einer Flasche schwerem Wein aus örtlichem Anbau erfasste ihn, ohne dass er wusste, warum, eine unbestimmte Erregung, bis ihm der Park wieder einfiel. Er war der jungen Frau vor dem Abendessen erneut in der Lobby begegnet, und diesmal hatte sie ihn angesehen und offensichtlich für gut befunden, trotzdem stellte er sich die Frage: Warum? Ich hätte genug hübsche Frauen zu meiner Zeit haben können, warum soll ich jetzt damit anfangen? Noch dazu mit einem Phantom, einer bloßen Erfindung meines Begehrens? Wozu?
    Seine Fantasie trieb die Dinge voran, aber es siegten die alte Enthaltsamkeit und die neue Fremdheit: Mein Gott, da könnte ich ja genauso gut an die Riviera fahren und mit Janice Caricamento schlafen oder dem Wilburhazy-Mädchen. All diese Jahre mit etwas verderben, was so billig und leicht ist?
    Er war noch immer erregt   – kehrte aber trotzdem auf der Terrasse um und ging in sein Zimmer hinauf, um nachzudenken. Körperlich und seelisch allein zu sein macht einsam, und Einsamkeit erzeugt noch mehr Einsamkeit.
    Er ging in seinem Zimmer herum und breitete seine Wanderkleidung erneut auf der schwachen Heizung aus. Dabei stieß er auf das immer noch ungeöffnete Telegramm von Nicole, mit dem sie ihn täglich begleitete. Er hatte es nicht vor dem Abendessen geöffnet   – wahrscheinlich wegen des Parks. Es kam aus Buffalo und war über Zürich nur weitergeleitet worden.
     
    |311|
IHR VATER HEUTE NACHT FRIEDLICH ENTSCHLAFEN.
    HOLMES
     
    Er spürte ein krampfhaftes Zucken, als sich die Kräfte des Widerspruchs sammelten; dann rollte ihm der Schock durch den Unterleib, seinen Magen und seine Kehle.
    Er las die Nachricht erneut, setzte sich aufs Bett, starrte vor sich hin, atmete, dachte zuerst den alten, egoistischen Kindergedanken, der mit dem Tod des Vaters oder der Mutter einhergeht: Was wird jetzt aus mir, wo dieser erste und stärkste Schutz nicht mehr da ist?
    Der Atavismus verging, und er marschierte immer noch hin und her, wobei er ab und zu auf das Telegramm starrte. Offiziell war Holmes der Vikar, aber eigentlich schon seit einem Jahrzehnt der Rektor der Kirche. Woran war sein Vater gestorben? Wahrscheinlich an Altersschwäche   – er war fünfundsiebzig gewesen. Er hatte lange gelebt.
    Dick war traurig, dass er allein gestorben war   – er hatte seine Frau überlebt und seine Brüder und Schwestern; in Virginia gab es Cousins, aber sie waren zu arm, um nach Norden zu kommen, und Holmes hatte das Telegramm unterschreiben müssen. Dick hatte seinen Vater geliebt   – bei Entscheidungen hatte er sich immer wieder gefragt, was wohl sein Vater gedacht oder getan hätte. Dick war kurz nach dem Tod zweier älterer Schwestern geboren worden, und weil sein Vater geahnt hatte, was das für seine Mutter bedeutete, hatte er die moralische Erziehung des Jungen selbst übernommen, damit er nicht zu sehr verwöhnt wurde. Er stammte aus einer alten, erschöpften Familie, aber dazu raffte er sich doch auf.
    Im Sommer gingen Vater und Sohn zusammen in die Stadt und ließen sich die Schuhe putzen   – Dick in seinem |312| gestärkten Matrosenanzug, sein Vater in schön geschnittener geistlicher Kleidung   – und der Vater war sehr stolz auf seinen hübschen kleinen Jungen. Er hatte Dick alles erzählt, was er über das Leben wusste. Nicht viel, aber das meiste wahr, einfache Dinge, Verhaltensregeln, die in seine Kompetenz als Pfarrer fielen. »Als ich gerade ordiniert worden war, bin ich mal in einer fremden Stadt zu einer großen Gesellschaft gegangen, wusste aber nicht, wer die Gastgeberin war. Einige Bekannte kamen auf mich zu, aber ich habe sie nicht beachtet, weil ich eine grauhaarige Frau gesehen hatte, die auf der anderen Seite des Raumes am Fenster saß. Ich bin zu ihr hingegangen und habe mich vorgestellt. Danach habe ich viele Freunde in dieser Stadt gewonnen.«
    Sein Vater hatte das getan, weil er ein gutes Herz hatte   – er war sich immer sicher gewesen, was er war, denn er war sehr stolz auf die beiden strengen Witwen, die ihm beigebracht hatten, dass nichts über »gute Instinkte«, Höflichkeit, Ehre und Mut ging.
    Sein Vater war immer der Ansicht gewesen, das kleine Vermögen der Mutter solle seinem Sohn zugutekommen und hatte ihm viermal im Jahr einen Scheck geschickt, so lange er auf dem College und in der medizinischen Fakultät war. Er war einer von den Menschen gewesen, die man in der Hochkonjunktur nach dem Bürgerkrieg mit der

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