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Zaertlich ist die Nacht

Zaertlich ist die Nacht

Titel: Zaertlich ist die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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noch nicht mitgemacht   – dann machte Dick die Szene ein bisschen überschaubarer, indem er ein paar Leute grüßte. Die Divers hatten offenbar viele Bekannte, aber es schien jedes Mal, als ob die betreffenden Personen sie schon sehr lange nicht mehr gesehen hätten und sehr verblüfft wären: »Du meine Güte, wo versteckt
ihr
euch denn?« Anschließend wandte Dick sich wieder der eigenen Gruppe zu, indem er den Außenseitern einen sanften, ironischen Gnadenstoß gab. Bald hatte Rosemary das Gefühl, als ob sie diese Leute selbst in irgendeiner bedauerlichen Vergangenheit schon gekannt, durchschaut und abgehakt hätte.
    Ihre eigene Gesellschaft war überwältigend amerikanisch, und dann wieder gar nicht. Dick gab jedem einzelnen seine Persönlichkeit wieder, die von den Kompromissen so vieler Jahre verwischt war.
    Nicoles himmelblaues Kostüm glitt wie ein verirrter Splitter des Sommerwetters in das dunkle, rauchige Restaurant, das nach den üppigen Speisen auf dem Büfett roch. Sie sah in den Augen der anderen, wie schön sie war, und |85| dankte ihnen mit einem strahlenden Lächeln. Eine Zeit lang waren sie alle sehr nett und höflich. Dann wurde es ihnen langweilig und sie wurden sarkastisch und witzig. Am Ende machten sie Pläne. Sie lachten über Sachen, an die sie sich hinterher nicht würden erinnern können. Sie lachten sehr viel, und die Männer tranken drei Flaschen Wein.
    Die drei Frauen waren typisch für die Mobilität des amerikanischen Lebens. Nicole war die Enkelin eines aus eigener Kraft reich gewordenen amerikanischen Kapitalisten und eines Grafen aus dem Hause Lippe-Weissenfeld. Mary North war die Tochter eines Tapetenhändlers und einer entfernten Verwandten von Präsident Tyler. Rosemary stammte direkt aus der Mitte der Mittelschicht und war von ihrer Mutter in die schwindelnden Höhen von Hollywood katapultiert worden. Das, was sie einander so ähnlich machte und von so vielen anderen Frauen Amerikas unterschied, war die Tatsache, dass sie völlig zufrieden in einer Männerwelt lebten. Sie bewahrten ihre Individualität mit Hilfe von Männern und nicht durch die Auseinandersetzung mit ihnen. Sie wären allesamt gute Kurtisanen oder gute Ehefrauen gewesen, nicht durch den Zufall der Geburt, sondern aufgrund des viel größeren Zufalls, den richtigen Mann zu finden   – oder nicht.
    Rosemary fand die Gesellschaft bei diesem Lunch angenehm, besonders weil sie nur sieben waren, was so ungefähr das Limit für eine nette Gruppe darstellt. Die Tatsache, dass sie neu in dieser Welt war, machte sie zu einer Art Katalysator und trug möglicherweise dazu bei, dass die anderen ihre alten Vorbehalte gegeneinander fallen ließen. Als die Tafel aufgehoben wurde, führte ein Kellner Rosemary in das düstere Hinterland aller französischen Restaurants, wo sie beim Licht einer trüben, orangefarbenen |86| Glühbirne eine Telefonnummer nachschlug und bei
Franco-American Films
anrief. Ja sicher, sie hatten eine Kopie von ›Daddy’s Girl‹, sie war im Moment ausgeliehen, aber eine Vorführung in der Rue des Saints-Anges Nr.   341 konnte ohne Weiteres arrangiert werden   – fragen Sie nach Mr Crowder.
    Die Kabine war gegenüber der Garderobe, und als Rosemary den Hörer auflegte, hörte sie, kaum anderthalb Meter entfernt, hinter einer Reihe Mäntel zwei leise Stimmen.
    »…   also liebst du mich?«
    »Und
wie
ich dich liebe!«
    Es war Nicole   – Rosemary blieb in der Tür der Kabine stehen   – dann hörte sie Dick sagen: »Ich bin so scharf auf dich   – lass uns schnell ins Hotel gehen.« Nicole stieß einen kleinen, keuchenden Seufzer aus. Im ersten Moment bedeuteten die Worte Rosemary beinahe gar nichts   – der Tonfall allerdings schon. Die ungeheure Heimlichkeit des Vorgangs übertrug sich auf sie.
    »Ich will dich haben.«
    »Ich bin um vier im Hotel.«
    Atemlos blieb Rosemary stehen, als sich die Stimmen entfernten. Anfangs war sie sogar erstaunt   – sie hatte keine solche Dringlichkeit bei ihnen vermutet, sie hatte sie für viel kühler gehalten. Jetzt durchströmten sie starke, nicht identifizierte Gefühle. Sie wusste nicht, ob sie fasziniert oder abgestoßen war, nur, dass es sie tief bewegte. Sie fühlte sich sehr allein, als sie ins Lokal zurückkehrte, aber es war rührend zu hören gewesen, und die leidenschaftliche Dankbarkeit von Nicoles
»Und wie ich dich liebe!«
hallte in ihrem Kopf wieder. Die konkrete Stimmung der Szene, die sie gerade belauscht hatte, lag noch vor

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