Zärtliche Wildnis
Morgenrock und schlich auf Zehenspitzen ins Nebenzimmer. Nein, sie hatte nicht geträumt. Dort lag ein hochgewachsener Mann, dessen Füße beinahe über den Rand des kurzen Bettes hinausstanden.
Er schlief nicht.
»Haben Sie geschlafen?« fragte er sogleich. »Ich muß Ihnen gestern nacht ja eine Heidenangst eingejagt haben, und ich war viel zu benommen, um mich zu entschuldigen. Ich habe mich wohl ziemlich unhöflich verhalten, aber es ging mir wirklich nicht gerade glänzend.«
»So schlimm war es gar nicht. Es war nur dumm von Ihnen, daß Sie mich nicht zum Laden gehen ließen. Ich koche Ihnen jetzt eine Tasse Kaffee und laufe dann gleich hinüber.«
Er war froh, daß sie ihm nicht wieder gesüßten Tee angeboren hatte. Er grinste und sagte: »Zuallererst — äh, Sie müssen entschuldigen, aber, wenn ich eine Frau wäre, würde ich sagen, ich möchte mir die Nase pudern, da dem aber nicht so ist...«
Sie brauchte einen Moment, um zu verstehen, was er meinte. Dann lief ihr Gesicht rot an, und er erkannte, daß sie noch sehr jung war und, unter anderen Umständen, vielleicht sehr schüchtern.
Doch sie nahm sich zusammen und lächelte.
»Wie dumm von mir, daß ich nicht daran gedacht habe. Kommen Sie, ich helfe Ihnen hinaus.«
Sie umschlang nicht nur fest seine Mitte, sondern führte ihn Schritt für Schritt zur Toilettentür. Dann wartete sie gelassen bis er wieder auftauchte, reichte ihm ein Handtuch und führte ihn nebenan in das kleine Badezimmer. Als er sich mit der Bemerkung zurückgezogen hatte, daß er sich endlich wieder menschlich fühlen würde, wenn er sich erst das Gesicht gewaschen hätte, ging Liz in ihr Zimmer, um sich anzukleiden. Während sie in ihr Kleid schlüpfte, dachte sie, wie unglaublich das alles war. Vor drei Monaten noch hatte es ihr größte Schwierigkeiten bereitet, mit einem fremden Mann auch nur einige Worte zu wechseln. Sie hatte auch noch mit ihrer Schüchternheit kämpfen müssen, als Adam Wilcox ihr Pirate gebracht hatte; und jetzt hatte sie tatsächlich einen völlig Fremden zur Toilette gebracht und draußen auf ihn gewartet. Und dabei war ihr dieser Fremde noch nicht einmal sonderlich sympathisch. Adam Wilcox war viel netter gewesen. Aber, dachte sie, dieser Mann ist verletzt, und Kay hat immer gesagt, daß es nie peinlich ist, Männern zu helfen. Man muß sie einfach als Patienten betrachten. Und. dieser Mann ist mein Patient, und ich muß vernünftig sein und Mutters Vorurteile einfach vergessen.
Er weigerte sich, wieder ins Bett zu gehen.
»Ich muß sowieso bald weg. Aber ich lege mich noch einen Moment aufs Sofa, wenn Sie nichts dagegen haben.«
Während sie für ihn und sich selbst den Kaffee kochte, dachte sie, daß er an diesem Morgen viel höflicher war. Dann trank sie eilig ihren Kaffee und sagte: »Jetzt gehe ich zum Laden.«
»Erst wenn wir die Nachrichten gehört haben und wissen, ob dieser Bursche gefaßt worden ist«, versetzte er mit Entschiedenheit. »Es ist ja noch gar nicht richtig hell. Wer weiß, ob er sich nicht irgendwo in der Nähe versteckt hat.«
Doch das war nicht der Fall. Man hatte ihn in den frühen Morgenstunden in der Nähe von Southville gefaßt, und er saß jetzt schon wieder hinter Schloß und Riegel.
»Da sehen Sie’s«, sagte Liz. »Ich habe doch recht gehabt. Ich hätte schon gestern nacht gehen können, und Sie wären jetzt schon im Krankenhaus und der Knöchel geschient.«
Denn selbst ihr, die in solchen Dingen keine Erfahrung besaß, war klar, daß er gebrochen sein mußte. Er konnte sich nur vorwärtsbewegen, indem er, einen Arm auf Liz’ Schulter gestützt, Schritt um Schritt hüpfte, zur großen Sorge von Pirate, der ihnen in seinem ernsthaften Bemühen, bei diesem rätselhaften Vorhaben zu helfen, ständig in die Quere kam. Sein Gesicht war in tiefe Kummerfalten gelegt, und er war höchst erleichtert, als er sich endlich mit Liz auf den Weg zum Laden machen durfte.
»In einer Viertelstunde bin ich mit dem Wagen zurück«, sagte sie zu Andrew Oldfield und breitete noch eine leichte Decke über seine Beine, ehe sie ging.
Er blickte ihr neugierig nach. In dem hellbraunen Rock mit dem gelben Pullover sah er ein sehr frisches Mädchen mit einer hübschen Figur, großen braunen Augen und einem ansprechenden Gesicht, da sie in Erinnerung an Kays Ermahnungen — du darfst dich nicht einmal vor dem Milchmann ungeschminkt sehen lassen — sorgsam Make-up gemacht hatte. Das Ergebnis, fand Andrew, war recht erfreulich; doch sie
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