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Zärtliche Wildnis

Zärtliche Wildnis

Titel: Zärtliche Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Scott
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sagen, daß flüchtige Häftlinge gewiß ebensowenig an Türen zu klopfen pflegten wie Tiere. Leise stand sie auf und schob den Vorhang zur Seite, um zur vorderen Veranda und zur Haustür hinunterzublicken. Ja, dort stand ein Mann. Sie hatte es nicht glauben wollen, aber Pirate hatte recht. Sie sah auf ihren Wecker. Es war zwei Uhr, und ein fremder Mann stand an die Wand gelehnt, als wäre er betrunken, auf ihrer Veranda.
    Natürlich muß ich ihn hereinlassen, dachte Liz erregt. Ich kann ihn doch nicht draußen in der Kälte stehen lassen. Aber was fängt man morgens um zwei mit einem Betrunkenen an? Außerdem würde Pirate bestimmt fuchsteufelswild werden. Vielleicht war es am besten, wenn sie einfach wieder ins Bett schlüpfte und das nachdrückliche Klopfen ignorierte. Sie versuchte, sich zu diesem Entschluß durchzuringen, hob aber dann doch noch einmal den Vorhang und spähte hinaus. Merkwürdig, wie unsicher er auf den Beinen zu sein schien, dabei sah er doch ganz ehrenwert aus. Dann dachte sie, daß heutzutage nichts Anrüchiges dabei war, wenn man sich betrank, vorausgesetzt, man tat es nicht regelmäßig. Draußen auf der Straße stand kein Auto. Wie war er bis vor ihre Tür gekommen? In diesem Moment konnte sich Pirate nicht länger beherrschen und stieß ein lautes, drohendes Knurren aus. Automatisch blickte der Mann zum Fenster hinauf und sah das Gesicht, das zu ihm hinunterblickte.
    Zu Liz’ Überraschung und Verwirrung sprach er nicht nur zusammenhängend, sondern drückte sich auch aus wie ein halbwegs gebildeter Mensch.
    »Es tut mir aufrichtig leid, daß ich Sie gestört habe. Ich bin nicht betrunken, und ich bin auch nicht der entsprungene Sträfling.«
    Wie hatte er erraten, daß gerade diese beiden Fragen sie beschäftigt hatten? Sie sagte nichts, weil sie zu entgeistert war, doch sie hielt immer noch den Vorhang mit unsicherer Hand zur Seite.
    »Ich habe einen Autounfall gehabt«, fuhr er fort, »und ich wäre Ihnen dankbar, wenn ich bei Ihnen telefonieren könnte. Ich weiß, es ist eine Zumutung, um diese Zeit einfach bei Ihnen anzuklopfen, aber — nun, ich bin leicht verletzt, und ich wäre Ihnen dankbar...«
    Sie wartete nicht darauf, daß er fertigsprach, sondern vermummte sich in einen unförmigen, altmodischen Morgenrock, der irgendwie Kays scharfem Auge und der Heilsarmee entgangen war. Dann fuhr sie sich eilig mit dem Kamm durch das Haar und öffnete die Haustür. Der Mann, der draußen gewartet hatte, stolperte herein, die eine Hand gegen die Mauer gestützt, unfähig, den einen seiner Füße zu gebrauchen. Er bemühte sich, leichthin zu sprechen.
    »Die typischen Symptome von Betrunkenheit, tatsächlich aber habe ich mir einen Knöchel verletzt«, erklärte er. »Wenn Sie mir gestatten, Ihr Telefon zu benutzen, werde ich ein Taxi rufen und mich zum Arzt in Southville fahren lassen.«
    »Oh, kommen Sie«, rief sie, als sie sah, daß er kaum gehen konnte. »Ich helfe Ihnen herein. Sie müssen sich setzen. Es tut mir furchtbar leid, aber ich habe noch kein Telefon.«
    Voller Erstaunen stellte sie fest, daß sie, die noch vor drei Monaten nur bei dem Gedanken, einen fremden Mann zu berühren, zu Stein erstarrt wäre, diesem Mann jetzt resolut den Arm um die Mitte legte und ihn zum Sofa in ihrem Wohnzimmer führte.
    »Kein Telefon?« echote er schwach. »Das ist ein Schlag. Da hätte ich Sie gar nicht zu belästigen brauchen.«
    »Und was hätten Sie statt dessen getan?« versetzte sie. »Hätten Sie sich vielleicht an den Straßenrand gesetzt und darauf gewartet, daß jemand vorbeikommt?«
    Mit einem Schimmer von Belustigung erwiderte er: »Ja, wahrscheinlich hätte sich sogar der entsprungene Sträfling bereden lassen, eine Nachricht abzugeben.« Und dann sah er einen Moment lang so aus, als würde er gleich ohnmächtig werden.
    Liz’ Sinn für das Praktische erwachte, und sie wurde energisch: »Jetzt legen Sie sich erst einmal hin und versuchen, nicht zu sprechen. Ich mache Ihnen inzwischen etwas Tee.« Als sie seinen entsetzten Blick sah, lächelte sie und fügte hinzu: »Ich wünschte, ich hätte Kognak da, aber das ist leider nicht der Fall. Es heißt aber, daß stark gesüßter Tee in solchen Fällen auch gut ist.« Damit verschwand sie und setzte den Kessel auf.
    Seine Augen folgten ihr benommen und überrascht. Das mußte die alte Jungfer sein, die hier den Kindergarten aufgezogen hatte, und jetzt, wo er imstande war, sich ein wenig zusammenzureißen, wußte er auch, daß das

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