Zärtliche Wildnis
hat wirklich allerhand mitgemacht, obwohl ihn selbst daran nicht die geringste Schuld trifft, und er muß jetzt zwei bis drei Wochen im Krankenhaus liegen, weil er zu Hause niemanden hat, der ihn pflegen könnte. Er langweilt sich zu Tode, und das mindeste, was du tun könntest, wäre, ihm hin und wieder eine halbe Stunde zu opfern.«
»Ich glaube nicht, daß ich die geeignete Person bin, um ihn aufzuheitern. In seiner Gegenwart werde ich aus unerfindlichen Gründen immer schüchtern. Die Erinnerung an diese Nacht ist mir einfach peinlich.«
»Blödsinn. Spiel jetzt bloß nicht die Prüde. Das hasse ich. Wenn du Liz bist, habe ich dich schrecklich gern, aber Miss Elizabeth Mortimer ödet mich an. Begrabe sie also möglichst tief. Wir sehen uns also auf jeden Fall nächste Woche, wenn du Andrew besuchst.«
Sie nannte ihn also schon Andrew. Das war natürlich unvermeidlich. Kay war immer lustig und umgänglich Männern gegenüber, und Oldfield war für sie offenbar so etwas wie eine Herausforderung. Im stillen dachte Liz, daß da wohl jeder von beiden seinen Meister gefunden hatte.
In Erinnerung an den alten roten Morgenrock, dessen Existenz sie Kay verschwiegen hatte, zog Liz ihren schicksten Hosenanzug an, als sie nach Southville fuhr, um den Invaliden zu besuchen. Andrew sah die beiden Mädchen gar nicht, als sie ins Zimmer kamen. Er schien in äußerst düstere Gedanken versunken. Mit Überraschung stellte Liz fest, daß er älter war, als sie gedacht hatte, mindestens dreißig. Sie überlegte, ob er wohl verheiratet gewesen war. Hatte er seine Frau verloren wie Wilcox, oder lebte er vielleicht von ihr getrennt? Sie hatte sein Gesicht nicht sehr klar in Erinnerung behalten, da sie in jener Nacht zu sehr mit seiner Verletzung beschäftigt gewesen war. Es war, das sah sie jetzt, ein hartes Gesicht, das aber, wenn es entspannt war, durchaus gütig wirken konnte. Die Linie seines Mundes war in diesem Augenblick grimmig, und die dichten Brauen verliehen seinen Augen einen grüblerischen Ausdruck. Dieser Mann konnte einem Angst machen.
Sie wollten ihn gerade begrüßen, als Kay nach draußen gerufen wurde. Sie eilte aus dem Zimmer. Liz, die ohne sonderliches Interesse durch die Glastür blickte, stellte fest, daß es sich nicht um eine dienstliche Sache handelte. Ganz im Gegenteil. Der gutgeformte, dunkelhaarige Kopf neigte sich nahe zu Kays goldblondem, und der Mann, der so gebieterisch nach ihr gerufen hatte, beugte sich nieder, um sie zu küssen. Als er den Kopf hob — höchste Zeit, dachte Liz unwillkürlich — , trafen seine Augen die ihren. Einen Moment lang starrte er sie reglos durch die Glasscheibe an, und Liz erwiderte seinen unbewegten Blick. Dann ließ der junge Mann Kays Hand los, drehte sich auf dem Absatz um und ließ sie stehen, wobei er mit nachdenklicher Miene sagte: »Komisch, das Mädchen habe ich irgendwo schon einmal gesehen.«
Liz blickte ihm nach. Ihr Mund war leicht geöffnet, ihr Gesicht war tiefrot. Als Kay ihre Mütze zurechtgerückt hatte und wieder hereinkam, war alle Farbe aus dem Gesicht von Liz gewichen. Bleich und zitternd stand sie da. Kay warf ihr nur einen Blick zu und führte sie wieder auf den Korridor hinaus.
»Was ist denn los, Liz? Du siehst ja aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«
»Habe ich auch. — Ach, Kay, wer war der Mann? War das Dr. — Dr. Clarkson?«
»Ja, natürlich. Das war Tony. Er ist gerade auf der Durchreise und kam vorbei, um mich zu besuchen. Warum nicht? Ich kenne ihn seit Jahren, und das ist einfach seine Art, Auf Wiedersehen zu sagen. — Aber, Liz, du siehst ja völlig verstört aus. Komm einen Moment in mein Zimmer.«
Liz folgte ihrer Freundin in das kleine Zimmer. Doch Kays Fragen beantwortete sie nicht, und sie erklärte ihr auch nicht den Grund ihres plötzlichen Unwohlseins. Sie blickte nur stumm zu ihrer Freundin auf, mit einem Ausdruck, in dem sich Scham und Qual mischten.
Kay wußte sofort Bescheid.
»Das ist Tonys Art Frauen gegenüber«, sagte sie hastig. »Aber — oh, Liz, war er der junge Arzt, in den du dich verliebt hattest? Seinen Namen hast du mir nicht gesagt. Ach, Herzchen, wie konntest du dich nur ernsthaft in ihn verlieben? Tony sieht man doch auf den ersten Blick an, was er für einer ist. Aber das hätte ich nicht sagen sollen. Du warst ja damals noch das reinste Kind und hattest mit Männern überhaupt keine Erfahrung. Es war ganz natürlich, daß du dich in ihn verliebt hast.«
»Und — und er erinnerte sich
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