Zärtlicher Eroberer
und bleiben noch eine Weile bei uns! Vielleicht kann ich Sie ja mit dem Besuch einiger wunderschöner Gärten hier in der Umgebung locken?“, bot Lucien großzügig an. „Ich habe gehört, dass der neue Vikar in Veryan, nur ein paar Meilen von hier entfernt, das Pfarrhaus renoviert hat und plant, den umliegenden Garten zu vergrößern. Ich könnte es für Sie arrangieren, dass Sie morgen zu ihm hinüberreiten und mit ihm fachsimpeln.“
Philippa drehte sich zu Valerian um. „Bitte, sagen Sie, dass Sie bleiben. Ich kenne das Pfarrhaus von früher. Es ist wunderhübsch, und Sie werden Samuel Trist, den neuen Vikar, bestimmt gut leiden mögen. Er soll wirklich ein begeisterter Landschaftsgärtner sein. Sie hätten also viel gemeinsam mit ihm.“ Der Gedanke, Valerian könnte abreisen, nachdem sie sich gerade erst an seine Rückkehr gewöhnt hatte, war plötzlich unerträglich. Aber er würde nicht bleiben, wenn er sich dadurch Lucien irgendwie verpflichtet fühlte.
„Und wer weiß, was sich sonst noch für angenehme Überraschungen auftun, wenn Sie nur lange genug bleiben?“, fuhr Lucien fort und spielte ganz den vollkommenen Gastgeber. „Mit etwas Glück könnten Sie der Erste sein, der mir gratulieren darf. Ich habe unserer lieben Duchess heute Morgen einen Heiratsantrag gemacht. Ich hielt es für das Beste, das neue Jahr gleich mit dem richtigen Schritt zu beginnen.“
Philippa spürte, wie ihr die Farbe aus dem Gesicht wich. Wie konnte Lucien es wagen, diese wütend herausgebrachte, eifersüchtige Äußerung einen Antrag zu nennen! Sie merkte, dass Valerian sie forschend betrachtete.
„Hat unsere ‚liebe Duchess‘ denn Ja gesagt?“, fragte er Lucien, ohne den Blick von Philippa zu wenden.
„Sie hat …“, begann Lucien.
„Sie hat nicht Ja gesagt“, fiel Philippa ihm aufgebracht ins Wort. Es war nicht abzusehen, welche nächste Lügengeschichte Lucien auftischen würde. Wenn er ihre Auseinandersetzung schon als Heiratsantrag darstellte, dann interpretierte er ihr Hinausstürmen aus der Bibliothek womöglich als „Bedenkzeit“ ihrerseits. Philippa sah beide Männer wütend an. „Ich werde nicht hier stehen und es zulassen, dass man über mich redet, als wäre ich unsichtbar. Das gilt für Sie beide. Da meine Anwesenheit für dieses Gespräch jedoch offenbar nicht erforderlich ist, lassen Sie sich nicht weiter stören. Ich gehe ins Haus.“
Sie musste vorübergehend den Verstand verloren haben, zu glauben, sie wäre noch nicht bereit für Valerians Abreise. Valerian . Das war auch noch so ein Punkt. Irgendwann zwischen seiner Ankunft vor zwei Tagen und diesem Nachmittag hatte sie angefangen, ihn in Gedanken wieder Valerian zu nennen, nicht mehr St. Just. Draußen im Garten war er noch ihr Freund gewesen, mit dem sie sich über die alten Zeiten unterhalten hatte, und dann war er plötz lich wieder St. Just geworden. Innerhalb kürzester Zeit war die Maske wieder an ihren Platz gerutscht.
War es das? Eine Maske? Warum war sie sich nur so sicher, dass seine Kälte und treffsichere Schlagfertigkeit eine Maske waren? Es konnte doch sein, dass die Rolle des Freundes nur vorgespielt war?
Oben in ihrem Zimmer warf Philippa den Umhang auf ihr Bett und begann, ruhelos vor dem Fenster auf und ab zu gehen. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Für eine Frau, die sich vor dem zweifelhaften Charme des Viscount St. Just gefeit gehalten hatte, stand sie ihm jetzt erstaunlich wehrlos gegenüber. Schon war sie auf dem besten Weg, die erwiesene Wahrheit über Bord zu werfen und einzutauschen gegen die Fantasiebilder, mit denen er sie als junges Mädchen umgeben hatte. Warum war es so leicht, wieder an diese alten Märchen zu glauben? Vor allem, weil sie doch wusste , es waren nur Märchen.
Plötzlich hatte sie eine Eingebung. Sie würde sich selbst beweisen, dass ihre Zuneigung bei Valerian Inglemoore nicht angebracht war. Ja, wenn sie diesen Beweis mit eigenen Augen sehen konnte, würde es ihr beim nächsten Mal, wenn er ihre Hand hielt oder mit ihr tanzte, nicht so schwerfallen, die Wahrheit zu verdrängen.
Philippa nahm einen Bogen ihres persönlichen Briefpapiers aus dem Sekretär und setzte sich. Energisch zog sie einen senkrechten Strich auf dem Papier und teilte den Bogen somit in zwei Spalten – die eine für Märchen, die andere für Tatsachen. Als sie mit dem Ausfüllen der Spalten fertig war, hatte sie drei Märchen und fünf Tatsachen.
Das erste Märchen: Er hatte sie in ihrer Jugend
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