Zärtlicher Eroberer
und versagt. Eins der Kinder war bereits tot.
Er unterdrückte seinen Schmerz und kroch zu Natasha hinüber. Sie lebte noch, aber es ging mit ihr zu Ende.
Er nahm ihre Hand und spürte, wie sie sie mit letzter Kraft fest umklammerte. „Rette die Kinder“, keuchte sie. „Finde Dimitris.“ Plötzlich weiteten sich ihre Augen vor Entsetzen. „Val, hinter dir!“
Er hatte das verstörende Gefühl, dass das alles schon einmal passiert war. Er verlor sie erneut. Sie hatte Bes seres verdient als eine blutige Hand, die ihre eigene hielt, während sie starb. Nein, nicht die Dunkelheit. Er wollte die Dunkelheit nicht, noch nicht. Er hatte die anderen bis lang nicht gerettet. Noch war er nicht so weit.
Valerian wachte schweißgebadet auf, er zitterte am ganzen Leib; und der Kopf tat ihm weh. Sein Atem stockte, und er schmeckte bittere Galle. Blind tastete er nach der Schüssel, die eigens zu diesem Zweck neben seinem Bett stand, und würgte, bis das Zittern nachließ.
Wieder dieser Traum. Jene Nacht in Negush, die er nie wieder erleben wollte, und die er doch wie durch einen Fluch ständig durchleben musste. Er beruhigte sich, indem er ein paar Mal tief durchatmete. Es war das erste Mal seit seiner Heimkehr, dass er diesen Alptraum hatte.
Valerian schlug die Bettdecke zurück, stand auf und schlüpfte in einen Morgenmantel. Danach zündete er die Lampe an, weil er wusste, er würde in dieser Nacht keinen Schlaf mehr finden. Die Furcht, der Traum könnte zurückkehren, war zu groß. Gegen ihn konnte er nichts unternehmen, wohl aber gegen seine Kopfschmerzen.
Er schenkte sich ein Glas Wasser aus der Karaffe auf dem Nachttisch ein und suchte in einer Schublade nach einer kleinen Phiole. Er zog den Stöpsel heraus und gab ein paar Tropfen in das Wasserglas. Als er es leer getrunken hatte, seufzte er erleichtert auf. Dank seines besonderen Kräuterelixiers würden die Schmerzen im Kopf in zwanzig Minuten nachlassen. Er ging ohne dieses Elixier nirgends hin. Bis es wirkte, konnte er nichts anderes tun, als sich hinzusetzen und abzuwarten.
Valerian ließ sich in einen Sessel neben dem erkalteten Kamin in seinem privaten Wohnzimmer fallen. Er hasste diesen Traum. Mehr noch, er hasste das, wofür dieser Traum stand – sein Versagen beim Beschützen der Menschen, die ihm etwas bedeuteten.
Es war seine Aufgabe gewesen, den Türken dabei zu helfen, eine friedliche Kapitulation auszuhandeln, nachdem sich der Distrikt Negush gegen die osmanische Herrschaft aufgelehnt hatte. Dem Distrikt war es sogar vorübergehend gelungen, sich zu befreien. Diese Nachricht hatte sich bis in die benachbarten Dörfer verbreitet, aber auf Dauer gesehen waren die Rebellen der türkischen Armee nicht gewachsen gewesen. Valerian war in die Region geschickt worden, um ihnen zu raten, die Waffen niederzulegen. Aber sie hatten nicht nachgegeben. Die Türken hatten ihnen gegenüber nie Gnade gezeigt, sie hatten ihre Krieger abgeschlachtet; sie hatten Gefangene gemacht, sie in die Sklaverei verkauft und alle die, die nicht dem einen oder dem anderen Schicksal zum Opfer gefallen waren, umgesiedelt an Orte irgendwo tief in Mazedonien.
Valerian hatte die fanariotischen Rebellen gut gekannt. Er hatte an ihren Tischen gespeist und in ihren Häusern gewohnt. Sie waren regionale Aristokraten gewesen, Natasha so etwas wie eine Countess, ihr Bruder eine Art Earl. Beide hatten ihn stark an Philippa und Beldon erinnert.
Ursprünglich hatte England ihn damit beauftragt, die Fanarioten zu unterstützen, war dann aber zu der anderen Seite übergetreten, als offensichtlich wurde, dass eine schwache Türkei britische Unterstützung brauchte, wenn man sich in diesem Teil der Welt gegen Russland behaupten wollte.
Selbst jetzt noch, acht Jahre nach dem verhängnisvollen Aufstand, erfüllten ihn die Ereignisse von damals mit Selbstverachtung. England hatte die Seiten gewechselt, zugesehen, wie Unschuldige abgeschlachtet wurden, und das alles nur, um sich das Wohlwollen der Länder rund um die Schifffahrtswege nach Indien zu sichern.
Hinter Valerians Aufträgen hatten keine Ideale gestanden, sondern allein reine kapitalistische Gier. Seinem Land kam es sehr gelegen, eine schwache Türkei in der Tasche zu haben. Man mochte die Vorstellung nicht, dass die Menschen dort das osmanische Joch abschüttelten, um eine neue, mächtige Christennation zu bilden, die Konkurrenz machen könnte.
Natasha, Dimitris und Dimitris’ tapferer Sohn waren für ihre Ideale, für die
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