Zärtlicher Eroberer
seit über einem Monat nicht mehr wie die Dowager Duchess gefühlt hatte. In den sechs Wochen in Roseland war sie wieder Philippa Stratten geworden, eine verliebte junge Frau. Sie hatte sich nicht als Duchess, Witwe oder Viscountess gesehen, da sie es vorzog, sich nicht über ihren Titel definieren zu lassen, sondern lieber als Mensch wahrgenommen werden wollte.
Doch nun war es wohl Zeit, wieder Würde und Autorität an den Tag zu legen. Sie straffte die Schultern und rief sich ins Gedächtnis, dass es sich nicht schickte, vor den Bediensteten Gefühle oder Schwäche zu zeigen. Die Liebe zu Valerian hatte sie in den letzen Wochen doch nachlässiger werden lassen, als sie gedacht hatte. „Die Köchin soll ein Teegedeck in den Salon bringen, Steves. Wir werden unseren Besuchern Roselands Gastfreundschaft erweisen, ganz gleich, was ihr Begehr ist. Sagen Sie der Köchin, sie soll auch ein paar ihrer besonderen Zuckerplätzchen und eine Tasse Milch für den Jungen dazustellen.“
Steves lächelte anerkennend. „Sehr wohl, Euer Gnaden“, sagte er knapp und war sichtlich erleichtert, dass ihm die heikle Aufgabe abgenommen wurde, sich um den seltsamen Besuch zu kümmern.
Philippa atmete tief durch und ging nach unten. Den kleinen Salon hatte sie zuerst renovieren lassen, allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, schon so bald jemanden darin empfangen zu müssen. Leise Stimmen, die sich in einer fremden Sprache unterhielten, waren zu hören. Philippa kam ein neuer Gedanke. Hoffentlich war die Frau nicht erschienen, um Valerian zu weiteren verräterischen Aktivitäten zu verleiten. Vorausgesetzt, er hatte sich schon einmal zu so etwas hinreißen lassen.
„Guten Morgen, Miss Stefanov.“ Philippa betrat den Salon. „Viscount St. Just ist momentan leider nicht zu Hause, aber vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein?“ Ganz und gar die vollendete Gastgeberin.
Die junge Frau erhob sich von dem neuen gelb gestreiften Sofa und lächelte erleichtert. „Es ist zu gütig von Ihnen, uns zu empfangen.“ Sie stupste den Jungen an, der steif neben ihr stand. „Das ist Konstantin.“
„Guten Tag, Konstantin“, begrüßte Philippa ihn. Dem armen Jungen war sichtlich unwohl. Er war ein hübsches Kind mit dichtem dunklem Haar und dunklen Augen. Sie schätzte ihn auf etwa sieben oder acht Jahre. Er war alt genug, Valerians Sohn sein zu können, gezeugt während seines Auslandsaufenthalts. Allerdings sah Lilya Stefanov zu jung aus, um seine Mutter sein zu können.
„Bitte, nehmen Sie doch Platz. Gleich wird der Tee serviert, damit Sie sich ein wenig erfrischen können. Sind Sie schon lange in England?“
Das Mädchen – und das war es tatsächlich, wie Philippa nach genauerem Hinsehen erkannt hatte – schüttelte den Kopf. „Wir sind vor zwei Tagen eingetroffen. Wir haben uns direkt auf den Weg hierher gemacht. Wir kennen sonst niemanden in diesem Land.“
Der Tee wurde gebracht, und Philippa nutzte die Zeit, das Mädchen noch genauer einzuschätzen, während die Bediensteten servierten. Es schien etwa sechzehn, höchstens siebzehn Jahre alt zu sein und war ungewöhnlich schön. Wie der Junge hatte es ebenfalls rabenschwarzes Haar, das geschmackvoll hochgesteckt war. Die Haut war leicht olivfarben und makellos rein. Auch die Kleidung wirkte kostspielig. Diese beiden waren keine Bauern vom Land. Wo auch immer sie herkommen mochten, sie waren eindeutig nicht unvermögend.
Der Junge freute sich sehr über die Milch und die Zuckerplätzchen, und das Mädchen lächelte dankbar über diese umsichtige Geste. „Wir haben eine lange Reise hinter uns und nicht so ausreichend gegessen wie wir sollten.“
Ein tapferes und stolzes Mädchen, dachte Philippa und beobachtete es über den Rand ihrer Teetasse hinweg. „Woher stammen Sie? Ihr Englisch ist ausgezeichnet, aber ich höre doch einen leichten Akzent heraus.“
Das Mädchen errötete. „Bitte, duzen Sie mich doch. Ich heiße Lilya.“
„Ist das ein russischer Name?“
„Nein.“ Dieses „Nein“ klang fast ein wenig trotzig, und Philippa fragte sich, was sich dahinter verbarg. „Es ist ein Name, der im Balkan üblich ist, genauer gesagt, ein mazedonischer Name.“
Philippa lächelte weiter, aber sie spürte eine Kälte in sich aufsteigen. Sie ahnte, woher dieses Mädchen angereist war. „Ich weiß leider nicht sehr viel über den Balkan.“
Ein Schatten der Trauer huschte über Lilyas Gesicht. „Ich komme aus einer kleinen Stadt, die es nicht mehr gibt. Sie
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