Zärtlicher Eroberer
erlaubt, ihn noch einmal zu sehen. Er versprach ihm, uns zu beschützen. Die Armee war im Anmarsch, es gab kein Entrinnen mehr. Ich war damals neun, glaube ich, Konstantin noch ein Baby, und mein Bruder Alexis war zwölf.“ Lilya verstummte und rang sichtlich um Fassung.
Philippa warf Beldon einen verwirrten Blick zu. Von dem älteren Bruder hatte sie noch nie etwas gehört. „Ist Alexis auf dem Balkan geblieben?“ Vielleicht hatte das Mädchen ja Heimweh nach seiner Familie.
„Nein“, erwiderte Lilya ruhig und starrte in ihre Teetasse. „Er und meine Tante Natasha kamen in jener Nacht ums Leben. Wir wären alle gestorben, wenn Valerian nicht gewesen wäre.“ Sie fuhr fort mit ihrer Geschichte, erzählte von dem Feuer und den Kämpfen; wie ihre Tante zwei osmanische Soldaten mit einem Schwert abgewehrt hatte; wie Valerian wie ein Berserker dazuwischengefahren war und die beiden getötet hatte.
Es war Valerian gelungen, sie in einem Wäldchen in relative Sicherheit zu bringen, doch die Front war bereits zu nahe gerückt, und so hatten blutrünstige Osmanen ihr Versteck schon bald aufgespürt. „Natasha fiel, und Alexis hob ihr Schwert auf. Er kämpfte Rücken an Rücken mit Valerian, aber er war noch zu klein, um längere Zeit mit der schweren Waffe Widerstand leisten zu können. Valerian tötete noch einige der Soldaten, bis die übrigen aus dem Wäldchen flohen. Danach fand er unsere Verwandten, die uns in Sicherheit brachten. Er jedoch ging zurück, die Armee erwartete ihn. Ich denke, kurz danach begab er sich wieder in die Botschaft. Seine Mission war beendet.
Dennoch vergaß er uns nicht. Er schickte uns Lebensmittel und Kleidung und kam sogar noch ein paar Mal bei den Verwandten vorbei, wenn er beruflich in unserer Gegend war. Bei diesen Besuchen gab er uns Geld. Er hat uns am Leben gehalten, denn nach dem Aufstand besaßen wir nicht mehr viel. Später erfuhren wir, dass er Alexis und unsere Tante hatte bestatten lassen, und dass er bei unserem Vater war, als dieser starb.“
Nachdem sie Valerians Teil der Geschichte am Morgen gehört hatte, konnte Philippa sich vorstellen, wie er gestorben war. Natürlich hatte Valerian all das auf eigenes Risiko getan und die Familie aus eigener Tasche unterstützt. Kein Mensch war seinen Freunden treuer ergeben als Valerian. Er verdiente es nicht, für seine Güte büßen zu müssen.
„Aber eines stimmt, er hat Türken getötet“, wandte Beldon ein.
Lilya nickte. „Ja, um uns zu retten.“
„Die Türken sind nicht einmal mehr unsere Verbündeten, das macht die Situation ja so verdammungswürdig“, schnaubte Beldon.„Es sollte eine Verjährungsfrist für solche Dinge geben, so schnell wie sich Bündnisse heutzutage verlagern. Nachdem acht Jahre lang niemand davon etwas bemerkt und sich niemand darum gekümmert hat, soll nun einem guten Menschen dafür der Prozess gemacht werden – das ist doch lächerlich.“
„Lucien hätte auch gar kein Interesse an dem Fall, wenn es nicht um mich ginge“, gab Philippa leise zu bedenken. „Er tut das aus reiner Gehässigkeit.“
„Das ist mehr als nur Gehässigkeit, Philippa, aber du kannst nicht die ganze Schuld auf dich nehmen. Lucien glaubt, Val steht seinem weiteren Werdegang im Wege.“
„Ich denke, wir müssen Lucien nachreisen“, meinte Philippa nach einer Weile. „Die Anklage wegen Verrats wird sich nicht aufrechterhalten lassen. Valerian hat Freunde in der Regierung, die den Prozess rasch beenden werden, sobald sie alles erfahren. Zu schade, dass sein Onkel noch im Ausland weilt. Trotzdem gibt es Leute in der Stadt, die Einspruch einlegen können. Sobald wir dort sind, wird Lilya ihre Version der Geschichte erzählen, und wir werden uns an ein paar Leute aus den höchsten Kreisen wenden. Die Vorwürfe werden dann vom Tisch sein, niemand möchte einen Helden einen Verräter nennen. Das muss Lucien doch wissen. Es wird einen kurzen Skandal geben, mehr nicht.“
Beldon nickte. „Ich stimme dir zu, Lucien weiß das. Er versucht nur, Zeit zu gewinnen. Eine Gerichtsverhandlung wäre geradezu lachhaft. Vielleicht kann er eine Anhörung durchsetzen, aber ihm muss klar sein, dass die Anklagepunkte viel zu dünn für ein richtiges Gerichtsverfahren sind. Nein, er will Valerians Tod, bevor es überhaupt zu einer Anhörung kommt. Sobald Val im Gefängnis ist, kann ihm irgendein tragisches Unglück zustoßen, ohne dass es jemandem groß auffällt.“
Genau das hatte Philippa befürchtet. Ihr wurde eiskalt.
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