Zärtlicher Eroberer
er dieselbe Taktik angewendet hatte.
Zur Teestunde machten sie kurz halt, danach fuhren sie zügig weiter, um das Tageslicht bestmöglich auszunutzen. Während des zweiten Teils der Reise dachte Valerian darüber nach, was Lucien vorhaben mochte. Er versuchte sich in seine Denkweise hineinzuversetzen. Ihm war völlig klar, dass Canton ihn als verurteilten Verräter sehen wollte, aber es war höchst unwahrscheinlich, dass es zu mehr als einer ersten Anhörung vor Gericht kommen würde. Vermutlich führte Lucien also etwas anderes im Schilde.
Valerian überlegte, dass es auf dieser Reise reichlich Zeit gab, Zeit für die Durchführung irgendwelcher hinterhältiger Pläne. Für Canton würde sich sicher mehr als nur eine Möglichkeit bieten, ihn zu töten. In Handschellen war Valerian dem Mann vollkommen wehrlos ausgeliefert. Er konnte nur nicht genau einschätzen, wie feige Lucien war. Besaß er die Kaltblütigkeit, jemanden selbst zu ermorden? Oder war er eher einer von der Sorte Mann, die „Unfälle“ bevorzugten, vor allem solche, die er zwar anordnete, die aber von anderen in die Tat umgesetzt wurden?
Bestimmte Ereignisse hatten ihm in den letzten Jahren zweifellos viel Glück gebracht. Das scheinbar plötzliche Auftauchen von Mandeville Danforth in seinem Haus in Truro hatte ihm sogleich einen Sitz im Vorstand der neuen Bank beschert. Ein Unfall in den Cambourne-Minen hatte ihm direkten Zugang zu Cambournes Erbe verschafft und ihm die Gelegenheit geboten, Philippas Freundschaft für seine ruchlosen Machenschaften auszunutzen.
Bei diesem Gedanken stutzte Valerian. Er hatte bislang alle dunklen Seiten von Cantons schändlichem Spiel in Betracht gezogen, aber dabei hatte er nur an die Gegenwart gedacht. Wie weit zurück in die Vergangenheit reichte sein Komplott wirklich? Beinhaltete es auch die bewusste Planung von Cambournes Tod? War die Intrige so fein gesponnen, dass er sich bereitwillig drei Jahre Zeit dafür gelassen hatte? Bis die Trauerzeit für Philippa zu Ende war und sie völlig legitim wieder heiraten konnte? Der mögliche Abgrund, der sich da vor ihm auftat, sprengte den Rahmen dessen, was er sich hätte ausmalen können. Es ging nicht mehr darum, dass Canton eine Situation für sich ausnutzte, in die er rein zufällig geraten war. Wenn seine Vermutungen zutrafen, hatte dieser von Anfang an ganz genau gewusst, was er tat. Das erklärte auch, warum Lucien so viel auf sich nahm, um ihn von der Bildfläche verschwinden zu lassen. Ohne es zu wissen, war er zu einer Bedrohung für seine ganzen Pläne geworden, und Philippa ebenfalls.
Er hoffte, dass sie durchhielt. Nach ihrem Gespräch mit Lucien hatte sie totenblass ausgesehen. Aber sie war zäh und beharrlich, und er bezweifelte nicht, dass sie sich längst etwas ausgedacht hatte, wie sie ihm beizustehen vermochte. Allerdings wünschte er sich, dass er selbst einen Ausweg aus dieser Situation gefunden hatte, ehe Philippa eingreifen konnte. Er wollte sie nicht in Gefahr bringen, und Lucien war ein weitaus gefährlicherer Gegner als ihr bewusst war.
Er betastete vorsichtig den Umhang und war froh, dass jemand so vorausschauend gewesen war, ein paar Dinge darin zu verstecken. Wahrscheinlich Lilya, denn sie hatte als Einzige die Möglichkeit dazu gehabt. Beldon und Philippa befanden sich draußen bei ihm auf der Terrasse.
So wie sich die Gegenstände anfühlten, handelte es sich um ein kleines Messer, etwas Geld und eine kleine Phiole. Valerian sah förmlich vor sich, wie Lilya in sein Zimmer gestürzt war und die Phiole auf dem Nachttisch entdeckt hatte. Vermutlich hatte sie sie mitgenommen, weil sie dachte, es könnte sich um eine Medizin handeln, die er möglicherweise brauchte. Wenn er lange genug lebte, um das Newgate-Gefängnis von innen zu sehen, würde ihm das Geld sehr gelegen kommen. Er hoffte, dass er nicht gezwungen sein würde, das Messer zu benutzen, aber er dankte Lilya insgeheim für ihre Umsicht.
Die Dämmerung brach an, als sie vor einem abgelegenen Gasthaus am Wegesrand anhielten. Vor etwa einer Stunde waren sie durch ein größeres Dorf gefahren, aber Valerian verstand jetzt, warum Lucien es vorgezogen hatte, hier zu halten. Es wurde von nur wenigen Reisenden aufgesucht, sodass ihre kleine Gesellschaft weniger Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte. Diese Wahl erhärtete Valerians Verdacht, dass Canton etwas anderes im Sinn hatte als eine Gerichtsverhandlung wegen Verrats.
„Die Handschellen, können Sie die mir bitte
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