Zärtlicher Eroberer
auftreten wollte. Sie fuhren geradewegs zu dem Herrenhaus, und der Butler erkannte Philippa auf Anhieb.
„Euer Gnaden, Mylord ist nicht anwesend“, erklärte er etwas überrascht durch ihre unangekündigte Ankunft. „Das wissen Sie doch sicher?“
„Genau deshalb bin ich ja hier“, erwiderte Philippa und benutzte die Ausrede, die sie und Lilya sich vorher zurechtgelegt hatten. „Mr. Canton hat ein paar Unterlagen vergessen, die er benötigt. Er hat mich gebeten, sie zu holen, denn es ist sehr dringend. Er befürchtet, dass seine neuen Verträge ohne diese Dokumente nicht unterzeichnet werden können.“ Sie rang die Hände, um die Dringlichkeit noch zu betonen.
„Wissen Sie, wo er sie liegen gelassen hat?“
„Er glaubt, in seinem Arbeitszimmer oder in seinem Schlafzimmer“, teilte Philippa ihm mit.
„Ich werde Ihnen suchen helfen“, bot der Butler an.
Philippa schüttelte den Kopf und zeigte auf Lilya. „Ich habe eigens meine Zofe mitgebracht, um Sie nicht damit belästigen zu müssen. Ich weiß, wie viele Verpflichtungen Sie haben.“ Damit durchquerte sie die Eingangshalle und ging geradewegs auf die Treppe zu, die nach oben führte, ehe der Butler irgendwelche Einwände hervorbringen konnte.
„Wonach suchen wir?“, flüsterte Lilya, sobald sie die Tür zum Arbeitszimmer hinter sich ins Schloss gezogen hatte.
„Nach irgendetwas Belastendem, mehr weiß ich auch nicht. Vielleicht finden wir ja gar nichts.“
Es kam ihr wie ein Teilsieg vor, dass sie so problemlos ins Haus gelangt waren, doch sie mussten sich beeilen. Philippa hatte keine Ahnung, wie lange es dauern würde, bis die Bediensteten argwöhnisch wurden. Wie viel Zeit sie hatten, hing davon ab, wie viel Lucien dem Personal über ihr Zerwürfnis mitgeteilt hatte. Sie konnte nur hoffen, dass Luciens Arroganz es ihm nicht erlaubt hatte, die Bediensteten über den Zustand ihrer Beziehung aufzuklären.
Was die Zeit betraf, so hatten sie Glück. Niemand kam und stellte irgendwelche Fragen. Sonst aber ließ sie das Glück im Stich, denn sie konnten nichts entdecken, das bewies, zu welchen schändlichen Intrigen Lucien fähig war.
„Wir sollten lieber woanders nachschauen. Ich glaube, hier ist wirklich nichts“, schlug Philippa vor.
„Ich sehe in seinem Schlafzimmer nach“, bot Lilya an.
„Und ich in der Bibliothek.“
In der Bibliothek starrte Philippa die hohen Bücherwände an. Sie würde niemals imstande sein, alle diese Bücher zu überprüfen. Selbst wenn sie die Möglichkeit dazu gehabt hätte, dauerte es sicher länger als einen ganzen Tag. Es lag durchaus im Bereich des Möglichen, dass ein Buch ausgehöhlt worden war, um etwas darin zu verstecken. Aber wie sollte sie das in so kurzer Zeit finden? Außerdem würde sie sich unnötig verdächtig machen, falls einer der Bediensteten hereinkam und sie dabei ertappte, wie sie die Bücher durchblätterte.
Philippa überprüfte den kleinen Sekretär in der Ecke, aber er war so gut wie leer. Entmutigt ließ sie sich auf das Sofa fallen. Es war schwer vorstellbar, dass ihr erst vor wenigen Monaten in eben diesem Zimmer ein Heiratsantrag von jemandem gemacht worden war, den sie für ihren Freund gehalten hatte. Sie erinnerte sich noch ganz deutlich an jenen Tag. Ihr war in diesem Raum etwas unbehaglich zumute gewesen, weil sie das vage Gefühl gehabt hatte, beobachtet zu werden.
Sie stand auf und ging zum Kamin. Nach allem, was in den letzten Monaten geschehen war, neigte sie allmählich zu dem Verdacht, dass sie vielleicht tatsächlich beobachtet worden war. Möglicherweise gab hier irgendwo eine versteckte Geheimtür.
Philippa warf einen raschen Blick zur Tür, dann wieder zum Kamin. Das Porträt darüber hatte an jenem Abend des Heiratsantrags ihr Unbehagen ausgelöst. Sie tastete vorsichtig die Innenseite des Kamins ab, und es dauerte nicht lange, bis sie einen Knopf fand, der normalerweise nicht in einen Kamin gehörte. Philippa hielt den Atem an und drückte auf ihn. Neben dem Kamin tat sich eine Öffnung in der Wand auf. Philippa hätte beinahe laut gejubelt – sie hatte ein Geheimzimmer entdeckt! Doch sie ermahnte sich, nicht zu optimistisch zu sein. Viele Häuser verfügten über solche Zimmer, Überbleibsel aus dem Bürgerkrieg oder aus noch früheren Zeiten.
Sie bückte sich und trat ein. Der Raum war viel größer als sie vermutet hatte. Vor der einen Wand standen ein Stuhl und ein Schreibtisch, auf dem sich Bücher stapelten. Ein Teppich lag auf dem Boden. Eine
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