Zärtlicher Nachtwind - Kleypas, L: Zärtlicher Nachtwind - Tempt me at Twilight
Tanz vorbei ist«, wandte sie sich grimmig an Poppy, »werden Sie diesen linken Arm nehmen und darauf bestehen, dass er Sie geradewegs zu mir führt, und zwar hierher, und dann wird er sich verabschieden. Verstanden?«
»Ja«, flüsterte Poppy und blickte über Harrys breite Schulter.
Michael starrte von der anderen Seite des Raumes zu ihr herüber. Sein Gesicht war aschfahl.
Die ganze Situation war ein Alptraum. Poppy wollte einfach nur fort von hier. Stattdessen würde sie tanzen müssen.
Harry führte Poppy zu der wirbelnden Menge und legte seine behandschuhte Hand an ihre Hüfte. Poppy fasste mit der einen zitternden Hand an seine Schulter, die andere ruhte sicher in der seinen. Mit einem scharfsinnigen Blick erfasste Harry die ganze Szene: Poppys unvergossene Tränen, Michael Baynings starre Miene und die Vielzahl neugieriger Blicke, die auf sie gerichtet waren.
»Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte er mit sanfter Stimme.
»Bringen Sie mich fort von hier«, sagte sie. »So weit weg wie möglich. Timbuktu.«
Harry sah sie teilnahmsvoll an. »Ich glaube nicht, dass sie zurzeit Europäer ins Land lassen.« Er zog Poppy in den Strudel tanzender Paare, schnelle Drehungen gegen den Uhrzeigersinn mit einem Schrittmuster im Uhrzeigersinn. Die einzige Möglichkeit, nicht zu stolpern, bestand darin, ihm ohne Zögern zu folgen.
Poppy war zutiefst dankbar, dass sie sich auf etwas anderes konzentrieren konnte. Wie sie erwartet hatte, war Harry Rutledge ein hervorragender Tänzer. Poppy entspannte sich und gab sich seiner geschmeidigen, kraftvollen Führung hin. »Danke«, sagte sie. »Sie wundern sich vielleicht, warum ich …«
»Nein, ich wundere mich nicht. Es stand Ihnen ins Gesicht geschrieben, Ihnen und Bayning, jeder konnte es sehen. Sie sind nicht besonders gut darin, Ihre Gefühle zu verstecken, nicht wahr?«
»Das musste ich auch noch nie.« Zu Poppys Entsetzen schnürte sich ihr die Kehle zu, und ihre Augen brannten. Sie war drauf und dran, vor allen in Tränen auszubrechen. Als sie versuchte, gleichmäßig zu atmen, spürte sie erneut die Fesseln des Korsetts um ihre Lungen, und ihr schwindelte. »Mr Rutledge«, keuchte sie, »könnten Sie mich bitte an die frische Luft hinausbegleiten?«
»Selbstverständlich.« Seine feste Stimme wirkte beruhigend. »Noch eine Runde, dann gleiten wir hinaus.«
Unter normalen Umständen hätte Poppy an seiner sicheren Führung Gefallen gefunden, an der Musik, die die Atmosphäre zum Schwingen brachte. Sie starrte in das dunkle Gesicht ihres sonderbaren Retters. Er sah blendend aus in seinen eleganten Kleidern, das kräftige Haar fein säuberlich nach hinten gekämmt. Nur seine Augen waren von den allgegenwärtigen Schatten untermalt. Fenster zu einer rastlosen Seele. Er schlief nicht genug, dachte sie, und sie fragte sich, ob schon einmal jemand gewagt hatte, ihn darauf hinzuweisen.
Obwohl sie völlig benommen war und alles wie durch einen dichten Nebel wahrnahm, wurde Poppy plötzlich bewusst, dass Harry Rutledge, indem er sie zum Tanz aufgefordert hatte, aus allen anderen Frauen ausgerechnet sie ausgewählt hatte, was von einigen Anwesenden sicherlich als eindeutige Interessensbekundung gedeutet worden war.
Aber das konnte nicht wahr sein.
»Warum?«, wisperte sie gedankenlos.
»Warum, was?«
»Warum haben Sie mich zum Tanz aufgefordert?«
Harry zögerte, als könnte er sich nicht entschließen, ob er den Anstand wahren oder seiner Neigung nachgeben sollte, ehrlich zu sein. Er entschied sich für Letzteres. »Weil ich Sie in den Armen halten wollte.«
Die Verwirrung, die diese Antwort in ihr auslöste, war so schwindelerregend, dass sie sich mit aller Mühe auf den Knoten seiner weißen Krawatte konzentrierte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Zu einer anderen Zeit und unter anderen Umständen hätte sie sich außerordentlich geschmeichelt gefühlt. In diesem Augenblick jedoch war sie zu vertieft in ihren Kummer über Michael.
Mit der Geschicklichkeit eines Einschleichdiebes führte er sie aus dem Gewirr von Tänzern heraus und geleitete sie zu einer der Fenstertüren, die auf die Terrasse hinausgingen. Sie folgte ihm blind, ohne sich darum zu kümmern, ob sie gesehen wurden oder nicht.
Die frische Luft empfing sie wie ein rettender Anker. Sie war kühl und trocken und brannte in ihren Lungen. Poppy schnappte förmlich nach Atem. Sie war dankbar, der stickigen Atmosphäre des Ballsaales entkommen zu sein. Heiße Tränen traten aus ihren
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