Zärtlicher Nachtwind - Kleypas, L: Zärtlicher Nachtwind - Tempt me at Twilight
wieder auf die Kommode zurückstellte, tauchte Harry in der Türöffnung auf und betrachtete sie versonnen. »Keine Frau wird dir heute Abend das Wasser reichen können«, raunte er.
Poppy lächelte und bedankte sich mit einem Murmeln. »Du siehst gut aus«, sagte sie, obwohl »gut« gar kein Ausdruck war.
Harry sah atemberaubend aus in seinem schwarzweißen Gesellschaftsanzug, mit der schneeweißen Krawatte und den auf Hochglanz polierten Schuhen. Er trug die eleganten Kleider mit unbefangener Lockerheit, so lässig und verführerisch, dass man leicht vergessen konnte, wie berechnend er war.
»Ist es Zeit hinunterzugehen?«, fragte Poppy.
Harry zog eine Uhr aus der Tasche und warf einen Blick darauf. »Noch vierzehn … nein, dreizehn Minuten.«
Poppy hob erstaunt die Augenbrauen, als sie die abgenutzte, zerkratzte Uhr sah. »Meine Güte, die musst du ja schon lange mit dir herumtragen.«
Er zögerte, bevor er ihr die Uhr zeigte. Poppy nahm sie vorsichtig in die Hand. Sie war klein, aber schwer, und die Goldfassung war von seinem Körper warm. Als sie die Uhr aufklappte, sah sie, dass das verschrammte und verkratzte Metall weder eine Inschrift noch andere Verzierungen aufwies.
»Woher hast du sie?«, wollte Poppy wissen.
Harry steckte die Uhr wieder in seine Tasche. »Von meinem Vater. Er gab sie mir, als ich mich von ihm verabschiedete, um nach London zu gehen. Er erzählte mir, er habe sie vor langer Zeit von seinem Vater bekommen mit dem Rat, sich, im Falle einer erfolgreichen Karriere, feierlich eine viel schönere Uhr zu kaufen. Und mein Vater schenkte sie mir mit ebendieser Empfehlung.«
»Aber du hast dir nie eine gekauft?«
Harry schüttelte den Kopf.
Sie lächelte verblüfft. »Ich würde sagen, du hast mehr als genug Erfolg gehabt, um dir eine neue Uhr leisten zu können.«
»Noch nicht.«
Sie glaubte, er mache einen Scherz, aber in seinem Ausdruck lag keine Spur von Humor. Beunruhigt und fasziniert zugleich fragte sie sich, wie viel Vermögen er wohl noch anhäufen, wie viel Macht er noch gewinnen wollte, bis er sich endlich zufriedengab.
Vielleicht gab es für Harry Rutledge so etwas wie »genug« gar nicht.
Ihre Gedanken zerstreuten sich, als er eine flache, rechteckige Lederschatulle aus seiner Manteltasche zog.
»Ein Geschenk«, verkündete Harry und reichte es ihr.
Sie sah ihn überrascht an. »Du brauchst mir wirklich nichts zu schenken. Danke. Ich hätte nicht erwartet … oh «, entfuhr es ihr, als sie die Schatulle öffnete. Eine Halskette mit Diamanten lag auf dem Samtfutter wie funkelndes Feuer. Es war ein schwerer Kranz aus glitzernden Blumen und vierblättrigen Kleeblättern.
»Gefällt sie dir?«, fragte Harry beiläufig.
»Ja, sehr, sie ist … atemberaubend.« Poppy hätte nie gedacht, einmal solchen Schmuck zu besitzen. Ihre einzige Halskette bestand aus einer Perle an einem Silberkettchen. »Soll ich … soll ich sie heute Abend tragen?«
»Ich denke, sie würde zu deinem Kleid passen.« Harry nahm den Schmuck aus der Schatulle, stellte sich hinter Poppy und legte ihr die Kette behutsam um den Hals. Die Kälte der schweren Diamanten und die Wärme seiner Berührung in ihrem Nacken ließen sie erschaudern. Er blieb hinter ihr stehen und fuhr mit den Fingerspitzen über die Rundungen ihres Halses hinab zu ihren Schultern. »Hübsch«, murmelte er. »Wenn auch nichts schöner ist als deine nackte Haut.«
Poppy starrte in den Spiegel, nicht in ihr gerötetes Gesicht, sondern auf seine Hände auf ihrer Haut. Sie schwiegen und betrachteten ihr gemeinsames Spiegelbild.
Seine Hände berührten sie so sanft, als handelte es sich um einen Kunstgegenstand von unschätzbarem Wert. Mit der Spitze seines Mittelfingers fuhr er ihr Schlüsselbein entlang bis zu ihrer Kehle.
Innerlich aufgewühlt, entzog sich Poppy seinen Händen, indem sie aufstand und um den kleinen Stuhl herumging. »Danke«, brachte sie mit Mühe hervor. Sie machte Anstalten, ihn zu umarmen und ließ ihre Arme zaghaft über seine Schultern gleiten.
Das war mehr, als sie beabsichtigt hatte. Aber etwas in seinem Ausdruck rührte sie. Sie erinnerte sich, denselben Ausdruck manchmal in ihrer Kindheit auf Leos Gesicht gesehen zu haben, wenn er bei irgendeiner Dummheit erwischt worden war und mit einem Blumenstrauß oder einem kleinen Geschenk zu ihrer Mutter ging.
Harrys Arme schlossen sich um sie, und er zog sie näher zu sich heran. Er roch unwahrscheinlich gut, und er war warm und kräftig unter den Schichten
Weitere Kostenlose Bücher