Zärtlicher Sturm
wünschte sie, sie hätte sich beim letzten Aufenthalt umgezogen. Statt dessen hatte sie sich seit ihrer Abreise nicht mehr vollständig umgezogen, und ihr war klar geworden, daß sie Jennys Dienste als zu selbstverständlich voraussetzte; denn sie war mit einer Bluse abgereist, die sie ohne Hilfe nicht ausziehen konnte.
Sharisse faßte sich wieder und rief sich in Erinnerung, daß sie es nicht darauf abgesehen hatte, einen guten Eindruck zu machen. Es war gar nicht dumm, wenn sie so schlimm aussah, wie sie sich fühlte.
Ein Riese erschien in dem aufgewirbelten Staub, um den Passagieren beim Aussteigen behilflich zu sein. Sharisse starrte ihn an und sah dann eilig zur Seite, als sie sich dabei ertappte. Als er ihr die Hand reichte, um ihr beim Aussteigen zu helfen, war sie zu geistesabwesend, um ihn zu bemerken, denn sie fragte sich, welcher der Männer, die um die Kutsche herumstanden, Lucas Holt sein mochte.
»Da will ich doch gleich verflucht sein.«
Sharisse wandte sich wieder zu dem Riesen um. Er ließ ihre Hand nicht los. »Ach, wirklich, Sir?« sagte sie hochmütig.
Er war so gnädig, verstört zu wirken. »Nur eine Redewendung, Ma'am.«
»Ich weiß«, erwiderte sie kühl, und sie war erstaunt, als er daraufhin grinste.
Als sie auf dem Boden stand, waren seine Ausmaße noch erstaunlicher – so groß und so breitschultrig. Er gab ihr regelrecht das Gefühl, winzig zu sein, und das war ein Gefühl, das sie bisher noch nie gehabt hatte. Ihr Vater war groß, aber neben diesem Mann hätte er zwergenhaft gewirkt. War dies ein Land der Riesen? Aber nein, der nervöse Blick, den sie in die Runde warf, zeigte ihr die Sorte von Männern, deren Anblick sie gewohnt war. Nur dieser eine Mann war groß, dieser Mann, der sie mit einem Ausdruck des Besitzerstolzes im Gesicht musterte.
Ihr Herzschlag setzte einen Moment lang aus. Das konnte doch nicht Lucas Holt sein!
»Sie sind doch nicht etwa …?«
»Lucas Holt.« Er grinste noch breiter, und seine gleichmäßigen weißen Zähne blitzten auf. »Ich brauche Sie nicht zu fragen, wer Sie sind, Miß Hammond.«
So hätte sich Sharisse Lucas Holt in ihren kühnsten Träumen nicht ausgemalt, so männlich, ein so scharf geschnittenes Gesicht und so kräftig gebaut. Sie nahm die leise Arroganz wahr, die von ihm ausging, und, du meine Güte, er erinnerte sie an ihren Vater. Augenblicklich entschied sie, daß sie es nicht wagen durfte, ihm die Wahrheit zu sagen, nicht, wenn er ihrem Vater ähnelte.
Sie versuchte, hinter diese rohe Kraft zu sehen, die sie ängstigte. Zumindest war er jung, vielleicht fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig. Und als häßlich konnte sie ihn auch nicht bezeichnen. Manche Frauen hätten ihn sogar schrecklich attraktiv gefunden, aber sie war makellos gepflegte, penible Männer gewohnt. Er trug nicht einmal ein Jackett. Sein Hemd stand oben offen, und er roch nach Pferden und nach Leder. Er hatte sogar einen Revolver an seiner Hüfte hängen. War das ein Wilder?
Er war glattrasiert, aber das lenkte die Aufmerksamkeit nur um so stärker auf seine sonnengebräunte Haut und sein unfrisiertes, langes schwarzes Haar. Seine Augen waren ungewöhnlich. Die Farbe ließ sie an eine Chrysoberyllkette denken, die sie besaß, mit gelblich grünen Steinen, die klar waren und leuchteten. Und als Kontrast zu dieser dunklen Haut wirkten seine Augen nur noch strahlender.
Lucas ließ sich von dem Mädchen betrachten. Sie war es, das Mädchen, das ihm auf dem Bild lieber gewesen war. Sie war leicht verrupft, aber das gab ihr etwas Sinnlicheres. Verdammt, sie sah wirklich gut aus! Es schien ihm fast so, als hätte er sie sich hierhergewünscht, und jetzt war sie da.
»Ich hole jetzt wohl am besten Ihr Gepäck, Ma'am.«
Sharisse sah ihm nach. Er grinste. Warum schien er bloß so erfreut zu sein? Sie sah gräßlich aus. Er hätte entsetzt sein müssen.
»Der Buggy steht da drüben«, sagte er, als er mit ihrem Gepäck zurückkam.
Ihr Blick fiel auf das Hotel. »Aber ich dachte … ich meine …«
»Daß Sie im Ort wohnen? Nein, Ma'am, Sie werden bei mir auf der Ranch wohnen. Aber Sie brauchen sich nicht um Ihren Ruf zu sorgen. Wir sind dort nicht allein.«
Es war wohl zuviel verlangt, wenn sie gehofft hatte, er würde ihr Unterkunft und Verpflegung zahlen, wenn gleichzeitig seine riesige Ranch mit einem Heer von Dienstboten leerstand.
»Brauchen Sie noch irgend etwas, ehe wir die Stadt verlassen?« fragte Lucas.
Sharisse lächelte schüchtern. »Das einzige,
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