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Zahltag

Zahltag

Titel: Zahltag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petros Markaris
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fünftausend Empörte versammelt haben. Vor der Treppe, die
zum Park und zu den U-Bahn-Eingängen führt, thront auf einem Klapptischchen der
Pappkarton. Obenauf klebt ein Schild, auf dem mit Filzstift geschrieben steht:
»Spendensammlung für den Steuereintreiber«.
    Ich nehme lieber die Vassileos-Jeorjiou-Straße, um der Menschenmenge
auszuweichen. Nichtsdestotrotz tritt mir ein Mann um die fünfzig in den Weg,
kaum dass ich den Bürgersteig vor dem Hotel Grande Bretagne betrete.
    »Ein Mordskerl ist das!«, meint er begeistert. »Der nationale
Steuereintreiber ist unser Erlöser!«
    »Das ist Griechenland, mein Freund«, sagt ein Jüngerer, der seinen
Ausruf mitbekommen hat. »Wenn man meint, dass es in den letzten Zügen liegt,
bringt es – schwupp! – einen [356]  Helden hervor. Aus diesem Grund werden wir auch
nicht untergehen. Da können Merkel, Sarkozy und Olli Rehn sagen, was sie
wollen. Griechenland ist unsterblich, weil es selbst fünf vor zwölf einen
Helden aus dem Hut ziehen kann.«
    »Und wenn diese Finnen weiter auf Garantien bestehen, bevor sie uns
die Kredite geben, schicken wir ihnen eben den nationalen Steuereintreiber. Der
wird ihnen schon zeigen, wo’s langgeht«, fügt eine Frau mit runzligem Gesicht
hinzu.
    »Wollen Sie nichts spenden?«, fragt mich der Erste. »Alle geben
etwas. Jeder einzelne Euro zählt.«
    Wenn ich jetzt sage, dass ich der Polizeibeamte bin, der den
nationalen Steuereintreiber sucht, komme ich hier lebend nicht mehr raus. »Ich
habe in der Mitropoleos-Straße etwas Dringendes zu erledigen. Auf dem Rückweg
spende ich was.« Mit dieser Ausrede schlüpfe ich an ihnen vorbei.
    Der untere Abschnitt des Syntagma-Platzes an der Filellinon-Straße
ist frei befahrbar, wenn auch die Autos nur im Schritttempo vorankommen. Ich
gehe die Mitropoleos-Straße hinunter, wo die meisten Geschäfte in weiser
Voraussicht geschlossen sind. Als ich in die Evangelistrias-Straße einbiegen
will, fällt mir ein, dass ich vergessen habe, Vlassopoulos nach der Hausnummer
zu fragen. Doch das erweist sich als überflüssig, denn vor einem der Geschäfte
hat sich eine Menschenansammlung gebildet, die mir den Weg weist.
    Es handelt sich um ein kleines Sportartikelgeschäft mit Laufschuhen,
Trainingsanzügen und ähnlichen Dingen mehr. Ich bahne mir einen Weg durch die
Menge. Vlassopoulos hat sich am Eingang aufgebaut, um die Schaulustigen
fernzuhalten. Die erste Person, die ich drinnen antreffe, ist eine [357]  Frau um
die vierzig, die ohnmächtig auf einen Stuhl gesunken ist. Zwei andere Frauen
besprengen sie mit Wasser und tätscheln ihr die Wangen, damit sie wieder zu
sich kommt. »Wach auf, Antigoni«, sagt die eine zu ihr. »Komm schon, mach die
Augen auf.«
    »Das ist seine Frau«, erklärt mir Vlassopoulos.
    »Hast du einen Krankenwagen gerufen? Sie braucht dringend einen
Arzt.«
    »Die Rettung ist verständigt, aber ein Teil des Personals streikt,
deshalb braucht sie heute länger. Da kommt man mit den Notfällen nicht so
schnell hinterher.« Nach einer kleinen Pause fügt er hinzu: »Ich hab Sie ganz
umsonst hergebeten. Es handelt sich eindeutig um Selbstmord.«
    »Macht nichts.«
    »Doch, das macht was. Es ist kein erfreulicher Anblick.«
    Auf einem zweiten Stuhl sitzt, der Frau gegenüber, ein
Sechzigjähriger und hält den Kopf in beide Hände gestützt.
    »Wer ist das?«, frage ich Vlassopoulos.
    »Der Ladenbesitzer von nebenan, der ihn gefunden hat.«
    »Und wo ist der Tote?«
    »Hinten, im Lagerraum.«
    Er deutet auf ein Türchen hinter dem Tresen. Ich stoße es auf und
betrete das Warenlager. Der Selbstmörder baumelt an einem Seil, das er am
Lampenhaken festgemacht hat. Ein Stuhl liegt umgestürzt zu seinen Füßen. Er
muss zwischen fünfundvierzig und fünfzig sein. Sein Kopf ist zur Seite
gesunken, und seine Zunge hängt ihm aus dem Mund. Eine weitere Begutachtung
erspare ich mir, da der Anblick unerträglich ist. Stattdessen rufe ich nach
Vlassopoulos.
    »Also wirklich! Ist denn niemand auf die Idee gekommen, [358]  ihn da
runterzuholen?«, sage ich aufgebracht, doch meine Entrüstung ist nicht gegen
ihn gerichtet. Ich möchte einfach dieses Bild aus meinem Kopf verscheuchen.
    »Keiner traute sich, ihn anzufassen. Da dachte ich, dann lassen wir
ihn am besten in Ruhe, dann sehen Sie ihn wenigstens am ursprünglichen
Fundort.«
    »Gib den Kollegen draußen am Streifenwagen Bescheid. Sie sollen ihn
runterholen.«
    »Haben Sie den Brief gesehen?«, fragt er mich und deutet auf ein

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