Zahltag
das liegt genau so dunkel und verlassen da wie das
Wohnzimmer. Ich atme tief durch und gelange zu der Erkenntnis, dass sie ausgegangen
sein muss. Dies wird durch einen Notizzettel bestätigt, den ich in der Küche
vorfinde: »Bin im Kino, nimm dir das Briam aus dem Kühlschrank.« Ich habe keine
Lust, allein eiskaltes Schmorgemüse zu essen. Trotzdem nehme ich es heraus, um
es bis zu Adrianis Rückkehr wenigstens auf Zimmertemperatur aufzuwärmen, und
begebe mich in der Zwischenzeit ins Schlafzimmer. Dort greife ich nach dem
Dimitrakos-Lexikon und lege mich aufs Bett.
Meine Suche nach dem Begriff »Steuerhinterziehung« bleibt
ergebnislos, auch zu »Steuerflüchtling« ist kein [104] Eintrag vorhanden. Im Jahr
1953, als dieses Wörterbuch den Preis der Athener Akademie gewann, kannten die
Griechen also diese beiden Termini noch nicht. Selbst wenn es damals vermutlich
auch schon ein paar schwarze Schafe gab, muss die Anzahl der Steuersünder so
gering gewesen sein, dass Dimitrakos ein eigenes Lemma in seinem Lexikon für
unnötig erachtete. Leider können Wörterbücher nun mal nicht in die Zukunft blicken.
Schließlich werde ich jedoch beim Eintrag »Steuerwillkür« fündig.
Steuerwillkür, die: eigenmächtiges
Agieren von Finanzbeamten, Verstoß gegen die Besteuerungsgleichheit.
Daraus folgt, dass im Jahr 1953 – nicht anders als heute –
Steuerwillkür herrschte, sich jedoch niemand durch Steuerflucht entziehen
konnte. Die Bürger leisteten ihre Abgaben, sosehr sie auch darunter ächzten.
Die heutige Generation hätte dazu vermutlich nicht mehr zu sagen als: »Waren
unsere Vorfahren wirklich so bescheuert?« Nach wie vor bürdet uns der Staat in
seiner Steuerwillkür ständig neue Abgaben auf. Umgekehrt zahlt nach wie vor
jeder zweite Grieche keinen Cent ans Finanzamt und gibt sich dem ungezwungenen
Dasein des Steuersünders hin. Zumindest ist auf diese Weise ein gewisses
Gleichgewicht zwischen Staat und Steuerzahler eingetreten.
Als ich den Schlüssel im Türschloss höre, springe ich vom Bett hoch
und erwarte Adriani gleich an der Wohnungstür.
»Hast du schon gegessen?«, fragt sie mich.
»Nein, ich habe auf dich gewartet. Wie kommt’s, dass du auf einmal
ins Kino gehst?«
[105] »Areti Lykomitrou hat mitbekommen, wie aufgewühlt ich bin, und
hat mir deshalb vorgeschlagen, einen Film schauen zu gehen, damit ich auf
andere Gedanken komme.«
»Hast du der Lykomitrou von Katerina erzählt?«, frage ich alarmiert.
»Mit irgendjemandem muss ich ja reden, damit ich nicht ersticke an
meinen Sorgen.«
»Na, ich bin schließlich auch noch da.«
»Mit dir zu reden macht alles nur noch schlimmer, dann blasen wir
beide Trübsal.«
»Und wenn sie Katerina darauf anspricht? Dir ist schon klar, dass
unsere Tochter dann stinksauer ist, oder?«
»Ich habe sie beim Leben ihrer Enkel schwören lassen, dass sie
Katerina gegenüber nichts erwähnt. Außerdem begegnen sie sich nur selten.«
Es passt mir zwar gar nicht, dass sie mit der Lykomitrou gesprochen
hat, weil mir keiner garantiert, dass die den Mund auch tatsächlich hält, wenn
ihr Katerina über den Weg läuft, andererseits juckt es mich, Näheres zu erfahren.
»Und was hat die Lykomitrou dazu gesagt?«
»Dass auch sie geheult hat, als ihre Tochter beschlossen hat, nach
London auszuwandern. Dass sie traurig war, weil ihre Enkel so weit weg sein
würden.« Nach einer kleinen Pause ergänzt sie: »Nur dass ihre Tochter nach
London gegangen ist und nicht nach Uganda.«
»Warum sprichst du überhaupt ständig von Uganda? Das steht doch noch
gar nicht fest«, frage ich genervt.
»Weil ich eine Optimistin bin«, entgegnet sie nüchtern. »Es gibt
wesentlich gefährlichere Destinationen, aber daran will ich nicht einmal
denken.«
[106] Ihre Antwort würgt alle meine Gegenargumente ab, weil sie mir wie
so oft mit der schlimmstmöglichen Variante den Wind aus den Segeln nimmt.
Wortlos setzen wir uns zum Essen hin. Das Briam schmeckt lecker, so
wie alles, was Adriani kocht. Dennoch bleibt es mir jetzt im Hals stecken.
Beide hüllen wir uns in Schweigen, um das eine Thema zu umschiffen, das uns auf
der Seele liegt. Zudem quält mich mein schlechtes Gewissen Adriani gegenüber,
denn ich kann mich wenigstens mit meinem neusten Fall beschäftigen. Zwar
strample ich dabei wie ein Hamster im Laufrad meiner Gedanken, andererseits
hält mich diese Übung auf Trab und lenkt mich von Katerinas Problem ab. Im
Gegensatz zu mir sitzt Adriani den ganzen Tag allein zu
Weitere Kostenlose Bücher