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bevor er das Wort ergreift.
»Sie können sich vermutlich denken, warum wir Sie vorgeladen haben.
Es handelt sich um die beiden Schreiben, die Sie gezeigt haben. Wir haben zwei
Mordfälle aufzuklären, und diese beiden Briefe bilden einen wichtigen
Bestandteil der Ermittlungen. Daher möchte ich wissen, wie sie in Ihre Hände gelangt
sind.«
Alle vier ziehen, wie auf Kommando, je eine CD-ROM aus ihrem Aktenkoffer und legen sie auf den Tisch.
»Was ist das?«, fragt Gikas.
»Eine DVD , Herr Kriminaldirektor. Wir
haben alle vier genau die gleiche Aufnahme zugespielt bekommen.«
»Auf welchem Weg?«, frage ich sie.
»Ein junger Mann um die zwanzig hat sie jeweils an der Rezeption
abgegeben. Es muss immer derselbe gewesen sein, vermutlich ein Albaner. Wir
haben das untereinander verglichen, und einhellig wurde uns von den
Angestellten am Empfang beziehungsweise von den Hausmeistern bestätigt, dass
der Bote einen starken Akzent hatte«, erwidert einer aus der Runde.
Das war die simpelste Lösung, sage ich mir. Er hat einem jungen Mann
ein Trinkgeld gegeben, damit er mit seinem Moped die Verteilung an die Sender
übernahm. Wie würden wir je an den rankommen?
[161] »Wollen Sie den Film nicht abspielen, Herr Kommissar?«, meint
Papalambrou vom staatlichen Rundfunk.
Gikas ergreift eine der DVD s, steckt
sie in den DVD -Player seines dienstlichen
Fernsehgeräts und drückt auf die Fernbedienung. Sobald das Ausgrabungsgelände
des Kerameikos-Friedhofs erscheint, hebt ein Sprecher aus dem Off zu einer der
üblichen touristischen Führungen an. Die Kamera schwenkt über die Einzelheiten,
während sich der Sprecher über das Grab des Perikles, das Heilige Tor und
andere Details ergeht, die ich mir gar nicht alle merken kann.
Die Kamera fährt langsam über die Grabstele, an deren Fuß wir
Korassidis’ Leiche gefunden haben. Schlagartig bricht das Video ab, und die
nächste Einstellung ist eine Nachtaufnahme. Es ist kein Video, sondern eine Aufnahme
des toten Korassidis in genau der Position, in der wir ihn vorgefunden haben.
Es liegt nahe, dass sie vom Mörder stammt. Dann erlischt das Foto, und das
erste Schreiben flimmert über den Bildschirm.
Anschließend beginnt ein neues Video. Diesmal befinden wir uns in
Elefsina. Wieder beginnt eine touristische Führung, wobei der Sprecher von den
kleinen und großen Mysterien von Eleusis, von Persephone und Pluton, dem Gott
des Totenreichs, erzählt. An beiden Orten hat man den Eindruck, dass eine
virtuelle Reisegruppe über das Ausgrabungsgelände geführt wird.
Erneut wird der Film abrupt unterbrochen, und es folgt eine Aufnahme
von Lazaridis, die ebenfalls nachts und mit Blitzlicht gemacht wurde. Danach
wird das zweite Schreiben eingeblendet. Als Gikas und ich schon der Meinung
sind, das Video sei damit zu Ende, hält der Mörder noch eine [162] weitere
Überraschung für uns bereit. Plötzlich erscheint eine antike Textstelle in
altgriechischer Sprache:
Er aber ging umher, und als er
merkte, dass ihm die Schenkel schwer wurden, legte er sich gerade hin auf den
Rücken: denn so hatte es ihn der Mensch geheißen. Darauf berührte ihn
ebendieser, der ihm das Gift gegeben hatte, von Zeit zu Zeit und untersuchte
seine Füße und Schenkel. Dann drückte er ihm den Fuß stark und fragte, ob er es
fühle; er sagte: »Nein.« Und darauf die Knie, und so ging er immer höher hinauf
und zeigte uns, wie er erkaltete und erstarrte. Darauf berührte er ihn noch
einmal und sagte, wenn ihm das bis ans Herz käme, dann würde er hin sein. Als
ihm nun schon der Unterleib fast ganz kalt war, da enthüllte er sich, denn er
lag verhüllt, und sagte, und das waren seine letzten Worte: »O Kriton, wir sind
dem Asklepios einen Hahn schuldig: Entrichtet ihm den und versäumt es ja
nicht!«
Platon, »Phaidon oder Von der
Unsterblichkeit der Seele«
Dann folgt der Kommentar des Mörders: »Athanassios Korassidis
und Stylianos Lazaridis schuldeten dem Asklepios keinen Hahn, sondern dem Staat
Steuern, die sie zu bezahlen versäumten.«
Gikas und ich blicken uns sprachlos an.
»Sie sehen, dass wir nur die Briefe herausgelöst und das Übrige
nicht gesendet haben, um Ihre Ermittlungen nicht zu behindern«, wendet sich
Kaloumenos von Hellas Channel an uns.
[163] »Warum sind Sie mit den Schreiben
eigentlich nicht auf Sendung gegangen?«, frage ich Papalambrou vom staatlichen
Rundfunk, worauf ich die erwartete Antwort erhalte.
»Wir haben den Minister informiert, doch der hat sich gegen
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