Zahltag
vielleicht auch davon gehört, dass er seine Opfer mit
Schierling vergiftet?«
Augenscheinlich hört er das zum ersten Mal, denn er starrt mich mit
offenem Mund an. »Mit Schierling?«, wiederholt er. »Wie Sokrates?«
»Ja, genau. Wie Sokrates.«
»Wieso wendet er so viel Zeit auf, um dieses Gift herzustellen?«,
wundert er sich. »Gibt’s denn keine Pistolen oder Messer mehr?«
»Genau darum dreht sich meine Frage. Wissen Sie vielleicht, ob
jemand aus Ihren Berufskreisen Schierlingsgift herstellen kann?«
[267] Er macht einen Versuch, sich zu konzentrieren, gibt ihn jedoch
rasch wieder auf. »Ähm, also… Ihre Frage kommt etwas plötzlich. Da fällt mir
spontan niemand ein.«
»Das verstehe ich. Hier meine Karte – wenn Ihnen jemand in den Sinn
kommt, rufen Sie mich bitte an.«
Er nimmt meine Karte entgegen und überfliegt sie. Dann hebt er den
Blick. Es liegt ihm etwas auf der Zunge, doch er zögert, es auszusprechen.
»Soll ich Klartext reden?«, fragt er schließlich.
»Ich bitte darum.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich Sie anrufen würde.«
»Warum nicht? Wir haben doch klargestellt, dass Sie aus dem
Schneider sind. Sie haben nichts zu befürchten.«
»Darum geht es nicht«, antwortet er. »Sehen Sie mal, Herr Kommissar.
In meinem Leben habe ich ein einziges Mal Mist gebaut und bezahle bis heute
dafür. Zwei Jahre war ich im Gefängnis, meine Frau hat sich scheiden lassen,
und mein Sohn will nichts mehr von mir wissen. Mutterseelenallein bin ich
jetzt, aber zum Sterben fehlt mir der Mut. Alle, die der nationale Steuereintreiber
umgebracht hat, haben viel Schlimmeres verbrochen als ich. Trotzdem blieben sie
auf freiem Fuß und führten ein schönes Leben, mit Mercedes, Villa und
Ferienhaus. Doch dann kommt der nationale Steuereintreiber, und endlich ist
Zahltag. Daran sehe ich, dass es doch so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit
auf dieser Welt gibt, selbst wenn sie nicht von derselben Gerichtsbarkeit
eingefordert wird, die mich damals verurteilt hat. Und genau diese
Gerechtigkeit, die der nationale Steuereintreiber herstellt, hindert mich
daran, mir die Pistole an die Schläfe zu setzen und mir eine Kugel in den Kopf
zu jagen.«
[268] Er hält inne und blickt mich an. Als er merkt, dass ich stumm
bleibe, fährt er fort. »Das ist der Grund dafür, dass ich mir nicht sicher bin,
ob ich es Ihnen erzählen würde, wenn mir jemand einfiele.«
Ich muss gestehen, dass der Minister in einer Sache ins Schwarze
getroffen hat. In der Tat haben wir es mit einem Volkshelden zu tun. Doch ich
fürchte, wenn bei der morgigen Aktion etwas schiefläuft, haben wir es nicht nur
mit einem Volkshelden, sondern mit dem Anführer einer Massenbewegung zu tun.
Zuerst hat uns der Minister eingeschärft, wir sollten ihn nicht festnehmen,
jetzt befiehlt er, ihn um jeden Preis zu schnappen. Doch morgen schon wagen wir
es vielleicht nicht einmal mehr, ihm auch nur ein Haar zu krümmen.
Bevor ich gehe, stelle ich Chomatas noch eine letzte Frage: »Sagen
Sie, haben Sie einen Computer?«
Erst blickt er mich verdutzt an, dann beginnt er so sehr zu lachen,
dass ihm fast die Luft wegbleibt.
[269] 35
Wir haben uns in einem großen Saal der Athener Sternwarte
versammelt, von wo aus wir den Eingang des Gebäudes überblicken. Sifadakis, der
den Einsatz koordiniert, hat das Kommando. Die Gruppe besteht aus Gikas,
Dolianitis, dem Leiter der Abteilung für Wirtschaftskriminalität, Lambropoulos
und mir. Doch wir dienen alle nur als Staffage, da Sifadakis die ganze Aktion
auf eigene Faust organisiert hat, ohne uns einzubeziehen. Anhand einer
Landkarte hat er gerade knapp erläutert, wo Einsatzkräfte in Zivil platziert
wurden, um den Fluchtweg des Boten zu verfolgen, der den Geldrucksack abholen
wird. Kein einziges Mal äußerte Gikas Widerspruch. Wir drei von der Polizei
haben uns auf Gikas’ Anweisung hin in der Sternwarte eingefunden, werden aber
von Sifadakis konsequent ignoriert. Er unterhält sich ausschließlich mit dem
Assistenten an seiner Seite, den er uns nicht einmal vorgestellt hat.
Es ist jetzt 14.55 Uhr, und theoretisch sollte in fünf Minuten der
Geldrucksack abgeholt werden, der fünfzig Meter vom Eingang des Observatoriums
entfernt hinterlegt wurde. Die Stimmung im Saal ist aus unterschiedlichen
Gründen angespannt. Die beiden Mitarbeiter des EYP sind hochgradig nervös, weil sie auf das Gelingen ihres Einsatzplans hoffen.
Wir vier von der Polizeitruppe stehen unter Strom, weil wir befürchten, dass
sie
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