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Zander, Judith

Zander, Judith

Titel: Zander, Judith Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: die wir heute saagten Dinnge
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Kopf stehender Zeilen, so wie ich manchmal als Kind versucht hatte, mir das
Schreiben mit der linken Hand beizubringen, da es ja immerhin passieren
könnte, dass ich mir den rechten Arm breche. Ich habe mir nie irgendwas
gebrochen. Wahrscheinlich hat es mich deshalb so beschäftigt, so wie einen eben
Dinge beschäftigen, von denen man glaubt, dass sie sowieso immer bloß andere
erleben und man selbst eine ewig Unwissende bleiben wird. Das ist natürlich
erst mal frustrierend; andererseits, aber da bin ich erst später drauf
gekommen, gibt es einem auch so ein Gefühl von - man kann es nicht anders als
Erhabenheit nennen, die erregende Erkenntnis, dass man anders ist als die
anderen. Und zu solcherart Erkenntnissen würde ich ja nie gelangen, wenn ich
nicht ab und zu auch mal das Buch aus der Hand legte und mir einige Dinge durch
den Kopf gehen ließe, was natürlich meist damit verbunden ist, dass man
rumsitzt und aussieht, als sei man in die gefährlichen Sphären des Nichtstuns
und der Sinniererei entfleucht. »Was grübelst du?« Als ob man so hirnverbrannt
wäre, solche Fragen irgendjemandem außer sich selbst zu beantworten, und schon das
ist heikel. Sprich: Tagebuch. Das geht ja nun überhaupt nicht. Ich meine, sich
dabei »überraschen« zu lassen. Was unweigerlich zu schwersten Bedenken Anlass
gäbe, und da hab ich nun wirklich keinen Bock drauf. Es gehört eindeutig zu den
Dingen, die man heimlich tun muss, obwohl ja doch jeder Bescheid weiß. Ich
glaube schon, dass Mama zumindest ahnt, dass ich Tagebuch führe, aber indem
ich nichts davon sage und sie mich nicht überraschen lasse, schaffe ich ihr die
Möglichkeit, sich nicht mit dieser Perversion beschäftigen, und mir die
Freiheit, mich nicht dazu erklären zu müssen. Natürlich geht sie das ja auch
gar nichts an, aber das sag mal einer Mutter. Sie würde wahrscheinlich
»trotzdem gerne« mit mir »darüber reden«.
    Dabei war ja ausgerechnet sie
es, die mich darauf gebracht hat. Ich war elf, als wir beim Einkaufen im
Supermarkt in einem dieser Aktionskörbe ein rosarotes Büchlein mit Mickey- und
Minnie-Maus auf dem Einband entdeckten, die in Gala-Garderobe irgendeinen Tanz
auf ihr imaginäres Parkett legten;
    erst auf den zweiten Blick sah
ich das winzige Schloss und den verheißungensvollen Schriftzug: Diary. Kurz zuvor hatten wir in
Englisch einen Text durchgenommen, in dem dieses Wort vorkam, und ich hatte
mich darüber ziemlich gewundert, ich meine, dass ganz
schulunterrichtsöffentlich eine Sache zur Sprache, ja tatsächlich zur übenden
Aussprache kam, von der ich durch meine Kinderbibliothekslektüre wusste, dass
es normalerweise eine streng geheime ist. Und Mama fragte mich doch wirklich,
ob ich es haben wolle, dieses Ding. Ich wusste sofort, dass ich es haben will,
und das, ohne vorher jemals den Wunsch nach so was gehabt zu haben; ein
blitzartiges Verlangen nach diesem nur aus leeren Seiten bestehenden Buch war
plötzlich in mir, und zwar nicht weil, sondern obwohl es rosa und mit
Mickey-Maus drauf war, und hätte mich jemand nach irgendeinem anderen, langgehegten,
innigeren Wunsch gefragt in diesem Augenblick, wäre mir garantiert rein gar
nichts eingefallen. Aber ich merkte genau, auf wie wackligen Füßen diese
Wunscherfüllung stand, weil uns nämlich beiden anscheinend nicht ganz wohl war
bei der Sache, weil Mama offenbar eine ähnliche Peinlichkeit wie ich verspürte,
als sie fragte: »Oder nicht?«
    Wahrscheinlich wäre sie doch
einigermaßen erleichtert gewesen, wenn ich gesagt hätte, ach nee, lass mal,
und sie somit von ihrem etwas voreiligen Vorschlag entbunden, aber damit hätte
ich ja irgendwie meine Peinlichkeit zugegeben. Dass ich das nicht tat, bewies mir auch, dass
es eine andere Peinlichkeit als sonst war, wenn ich gefragt wurde, ob ich etwas
haben wolle, und ich dann meistens ablehnte, weil mir das gegen meine
sogenannte Bescheidenheit ging. »Das Kind ist ja so bescheiden«, hieß es immer.
Es ist mir auch heute noch schlichtweg unangenehm, Wünsche zu äußern, ich weiß
auch nicht, wieso. Aber bei diesem ersten Tagebuch gab es nun kein Zurück mehr,
da musste ich durch, und so sagte ich einfach: »Doch.«
    »Na gut«, meinte Mama darauf,
was ich wieder mal unmöglich fand. Als hätte ich sie darum gebeten oder so.
Ich sagte dann schnell, dass ich dringend aufs Klo müsse, damit wir uns
beeilten und ihr nicht noch irgendwas zu diesem Thema einfiele.
    Zu Hause nahm ich das Buch
unauffällig aus der Tüte, es war ganz kalt

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