Zander, Judith
du über
das Parkett und nach draußen gegangen. Du versuchtest dich zu erinnern, welche
Musik sie gespielt hatten. Es musste welche gegeben haben, du probiertest
verschiedene Schlager in deinem Kopf, keiner passte. Es machte dich wütend. Du
warst nicht betrunken, so viel stand fest. Das machte dich auch wütend. Du
stiefeltest dreimal um das Kulturhaus, stolpertest dir einen Weg zurecht über
Grasbüschel und durch Vorjahreslaub, du wolltest noch nicht ins Bett.
Der kleine Teich zog dich an,
du tapptest bis zu seinem Rand, bis die Nässe deine Schuhspitzen durchdrang,
und beugtest dich darüber, du konntest absolut nichts erkennen. Kein
Entenflott, kein Spiegelbild, nichts. Du fragtest dich, ob es um diese Zeit
denn schon Entenflott gab. Irgendetwas an der Frage erschien dir merkwürdig,
vielleicht, weil du noch nie darüber nachgedacht hattest. Du hättest fast
gelacht. Dir kam das Flugzeug in den Sinn, das in den Teich gestürzt war, es
musste ein Ereignis gewesen sein, alle wussten davon, einschließlich dir, oh
ja. Du stelltest es dir vor, du empfandest so was wie Mitleid. Mit dem Teich.
Fast hättest du geweint. Niemals warst du Schlittschuh gelaufen auf diesem
Teich, so wie jetzt die jüngeren Mädchen, du konntest sie sehen aus deinem
Zimmerfenster, durch die kahlen Büsche hindurch, sie blieben bis zum Dunkelwerden.
Du dachtest, du könntest es vielleicht Heiligabend probieren, gegen fünf, wenn
es dämmerte und alle bei der Bescherung hockten. Dir wurde auf einmal ganz
wunderlich zumute. Du warst es nicht gewohnt, Pläne für die Zukunft zu machen.
Mitten auf der Dorfstraße
gingst du dem Park zu. Er musste da lang, als Einziger, sein Haus lag auf der
anderen Seite der Landstraße als eines von vieren, etwas abseits, das letzte
Haus vor den Wiesen. In den Wiesen hattest du auf ihn gewartet, abends. Ein
einziges Mal hattest du sein Zimmer betreten, nachmittags. Sein Bett mochte
nicht viel schmaler als ein Doppelbett gewesen sein. Aber das konntest du gar
nicht einschätzen. Du musstest den Umweg über Kossin nehmen, hin und auch
zurück, an den Kühen vorbei, die dich anglotzten und muhten. Manchmal sah dich
einer, aber grüßte nicht. Zurück brachte er dich ein Stück, du wusstest nicht,
wieso. Manchmal sagte er, »bleib mal stehen«, und dann hat er dich noch mal
angefasst, und du konntest dich immer nicht entscheiden, ob du das Fahrrad
fallen lassen solltest, um beide Hände frei zu haben, oder nicht. Kann sein, er
mochte es gerade so. Ansonsten habt ihr wenig geredet. Er brachte dich bis kurz
vor Kossin. »Mach kein Licht an«, sagte er. Es fuhren kaum Autos.
Du setztest dich auf einen
Baumstumpf im Park, mit den Fingern bröckeltest du rechts und links von dir
die morsche Rinde ab. Wenn er alleine kam, wolltest du es ihm sagen, ins
Gesicht, in sein Roland-Möllrich-Gesicht. Wenn nicht, erst recht. Du wolltest
ihn mit reinziehen. Er würde dir nie verzeihen. Das wäre ja noch schöner.
Der Schöne Roland. Du
erklärtest dich selbst für verrückt, du sahst plötzlich alle Gründe ein, aus
denen die anderen einen Bogen um dich machten, du sahst, dass es welche gab,
du hättest gern selbst einen Bogen um dich gemacht, einen weiteren als sonst.
Mitunter schobst du alles auf Peter. Er war nicht mehr da, er kam nicht mehr
wie in seiner Lehrzeit jedes Wochenende nach Hause, schon lange nicht mehr,
aber es schien dir erst jetzt aufzufallen. Er war Feinmechaniker, er war mit
einem Mädchen zusammen, er war in Neubrandenburg. Es gab keine gute
Zugverbindung, die Busse brauchten ewig. Er wollte heiraten, im nächsten Frühjahr.
Du hattest ihn gefragt, achtjährig, warum er denn nicht im Zeitungskiosk in
Anklam arbeiten wolle. Du liebtest dieses Wort, du hattest lange geübt, um es
in einem Rutsch aussprechen zu können, überzeugt, dass kein anderer aus deiner
Klasse dieses Kunststück beherrschte. Du hast ihm in den Ohren gelegen. Er
hätte dir die ganzen bunten Hefte mitbringen können, die sonst immer schon weg
waren, und die runden Kaugummis. Du hättest mit dem Fahrrad hinfahren können,
na Peter, hättest du gesagt, und die anderen Kinder, auch die älteren, hätten
sich nicht vordrängeln können. Weil er doch dein Bruder war. Und dein Bruder
hätte dich durch die schmale Tür an der Rückseite gelassen, komm rein, hätte er
gesagt, und es wäre sehr eng und wunderbar im Kiosk gewesen, in dem
Zeitungskiosk am Breitscheidplatz, wo deine Mutter einmal im Monat den G uten R at für heute und morgen
Weitere Kostenlose Bücher