Zander, Judith
und anhaltend. Du hättest fast gejubelt, wäre
Jubeln etwas gewesen, was dir leichtfiel. Nicht darüber, dass du ihn in dir
hattest. Du. Ihn. Sondern ihn, den Schmerz, den körperlichen, den fremden
Schmerz, wie das plötzliche Wissen um die Existenz eines anderen, echteren
Bruders, die du bis dahin nicht für möglich gehalten hättest. Die du nicht
selber erschaffen hast. Ein Bruder, der aus dem Nichts kam. Der dich mitnehmen
würde dorthin.
Du ließest es geschehen, du
warst wie eine Folge konzentrischer Wellen, die fortwährend durch einen Impuls
in ihrer Mitte erzeugt wurden. Etwas schuf dich. Bei jedem Mal, auch als mit
der Zeit deine Wellen höher schlugen, bald nahezu chaotischen Mustern folgten,
ihn zu überspülen drohten, obwohl er mit aller Kraft dagegen anschwamm. Du
wurdest es nie ganz los. Er überließ sich dir nie. In der Schule gab es euch
nicht. Höchstens ihn. Die Zettel wechselten nie die Richtung, ein Sender ist
kein Empfänger, du hättest schreiben können, was du wolltest, eine erkennbare
Reaktion darauf wäre ausgeblieben, du warst froh, dass du erst gar keinen
Versuch unternehmen brauchtest. Ihr traft selten Absprachen für ein nächstes
Treffen, jeder knappe Abschied war vorläufig für immer. Dass alles ohne ein
Sterbenswörtchen bleiben musste, das sahst du sofort ein, du hättest es am
liebsten selber angeordnet, aber dann wäre sehr wahrscheinlich das Gegenteil
eingetreten. Ihr wart keine Freunde. Wahrscheinlich das Gegenteil. Er machte
dir keine Versprechungen, vertröstete dich nicht auf eine Zukunft, eine
baldige, nach der Schule, wart nur, du dachtest gar nicht daran. In gewisser
Weise wart ihr füreinander geschaffen. Ihr lebtet, als gäbe es keine Liebe.
Eine Vokabel, wie >Sühne<, >Erlösung<, irgendwo im verwilderten
Pfarrgarten eures passiven Wortschatzes.
Du konntest nicht mehr nach
Hause gehen am Abend des Ersten Mai im Jahr neunundsechzig. Du hattest zwei
Stunden auf einem Baumstumpf gehockt, er besaß nicht mal ein paar frische
Triebe, die du abbrechen konntest. Wie ein Pfropf, unfähig, einen eigenen
Lebenswillen zu entwickeln, der kräftig genug gewesen wäre, dich von deiner
Unterlage abzulösen und zu gehen und alles zu vergessen. Stattdessen musstest
du auf den warten, der dich dort hinverpflanzt hatte, ein Wesen geschaffen
hatte aus nicht zusammengehörigen Teilen. Du wartetest auf deine Abtrennung, Auflösung.
Aus Richtung des Kulturhauses
drangen in Schüben Lärm- und Musikfetzen zu dir herüber, immer dann, wenn es
sein Türmaul öffnete und wieder Alkoholisches ausspuckte, Bruchstücke vom harten
Kern. Kotzbrocken, dachtest du. So viel Witz hattest du dir gar nicht
zugetraut. Als du Roland darunter ausmachtest, seine Stimme, wenn auch keine
Worte herausfiltern konntest, stelltest du dich hin. Du wolltest nicht so viel
kleiner sein als er. Am liebsten wärst du auf den Baumstumpf gestiegen. Er kam
allein, du erwartetest, dass er betrunken sein würde wie alle anderen, doch
anders als alle anderen schien er noch einen stabilen, zielgerichteten Schritt
zu haben, dir war fast, als käme er direkt auf dich zu. Aber du sahst ihn,
lange bevor er dich bemerkte, dann stoppte er abrupt, und nach kurzem Zögern
sagte er exakt den Satz, den du seit zwei Stunden vorausgesehen hattest, ohne
bis dahin eine Antwort darauf gefunden zu haben. Was machst du denn hier? Mit
diesem Satz stolpertet ihr auf die Bühne, es galt, das Stück ohne Aussetzer zu
Ende zu bringen.
Er trat noch einen Schritt auf
dich zu, fasste dich am Arm und schob dich ein Stück tiefer in das Dunkel des
Parks. Du machtest dich los. Du sagtest deinen einzigen Satz, den einzigen in
dieser Zeit, in dem dir das Personalpronomen nicht wie ein Platzhalter, eine
Figur vorkam.
»Hör zu, ich will das nicht
mehr!«
»Schrei nicht so!«, sagte
Roland, dabei hattest du nicht geschrien, du schriest nie. Vielleicht hatte er
nur zum ersten Mal deine Stimme gehört. »Was willst du?«
»Nichts«, sagtest du, und das
war die reine Wahrheit. »Gar nichts! Ich hab nie irgendwas gewollt, schon gar
nicht dich!«
Aber Roland war nicht dumm.
»Wer sagt denn, dass du mich gekriegt hast?« Er lachte auf.
Es hatte keinen Sinn. Es ist
dir unbegreiflich, wie du diese absolute Sinnlosigkeit damals übersehen
konntest. Warum wolltest du eine Erklärung, Rechtfertigung, Abrechnung,
Beschimpfung, warum erwartetest du das: von dir? Du warst ihm nichts dergleichen
schuldig. Du hättest auf ihn hören sollen, als er sagte: »Geh
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