Zander, Judith
nicht
reingeguckt oder so, ich habs einfach so gewusst. Wahrscheinlich denkt sie die
ganze Zeit über irgendwas nach, hab ich gedacht, über sich, und dann schreibt
sie das alles auf. Wahrscheinlich weiß sie über sich selbst ganz genau
Bescheid, ganz genau, was sie will. Oder wenigstens, was nicht.
»Ich mein, ich kann mir das
überhaupt nich vorstellen, son richtiger Job und so, und du gehst da jeden Tag
hin und machst da jeden Tag deine Arbeit von morgens bis abends und das vierzig
Jahre lang. Wenn du Glück hast. Und wenn du noch mehr Glück hast, interessiert
dich das vielleicht sogar n bisschen, was du machst. Aber irgendwie will ich
das nich.« Sie grinst. »Meine Eltern sind natürlich immer entsetzt, wenn ich so
was sag!«
»Na frag mich mal. Ich sag
sowas gar nich erst, und trotzdem liegen die mir ständig in den Ohren, was denn
bloß aus mir werden soll und so, und dass ich noch irgendwann in der Gosse
lande, wenn das so weitergeht. Aber ich intressier mich einfach für nix.«
Romy guckt mich an. »Für gar
nix? Ich mein, in der Schule, interessiern dich da nich n paar Sachen, ich
mein, zumindest mehr als andre?«
»Nee. Mir is das alles
wurscht. Ich glaub, das war gleich so, schon wie ich in die erste Klasse kam
und die mit O mi und L ilo am Z aun anfingen. Als ich von meinem
ersten Schultag nach Hause kam, hab ich gesagt: >Da will ich nich mehr
hin!< Ich hab ja auch öfter geschwänzt und so, und das als Lehrerkind! Da
war immer was los! Mit der Zeit hab ich gedacht, is einfacher, doch hinzugehn
und bloß drauf zu warten, dass es vorbei is. - Na doch, manchmal hat mich auch
was intressiert, aber wenn ich dann die ganze Stunde was dadrüber hörn musste
und die ganzen Tafelbilder abmalen und dann zu Hause auch noch auswendig
lernen, damit ich das dann inner Klassenarbeit noch mal hinschreiben sollte, da
wars dann immer vorbei mit meim Intresse. Das war wie als war das zehnmal
eingewickelt worden, in lauter Plastetüten oder so, dass man gar nich mehr
richtig erkennen kann, was es is. Oder wie mit Gummi.« Ich muss lachen. Aber
Romy sieht aus, als wenn sie auf was wartet.
»Na, ich mein, also - mit
Kondom. Hat Thorsten mal gesagt. Er hat gesagt, Sex mit Kondom is, als würdste
n Bonbon mit Einwickelpapier lutschen.« Ich lache.
Romy grinst ein bisschen. »Wer
ist Thorsten?«, fragt sie.
»Na, mein Bruder.« Das weiß
sie ja gar nicht.
»Achso«, sagt sie. »Wie alt
ist er denn?«
»Einundzwanzig. Er studiert in
Berlin. Er is schon vor zwei Jahren ausgezogen. Und an ihn komm ich sowieso
nich ran.«
»Wie - nich ran?«
Wie soll ich ihr das jetzt
wieder erklären? Sie ist ein Einzelkind und hats gut. Obwohl, ohne Thorsten war
auch scheiße gewesen. So scheiße wie jetzt.
»Na ja, er war eben immer
besser und so. Er hat immer alles richtig gemacht, jedenfalls fällt mir nix
ein, wo er mal richtig was falsch gemacht hätte, mal richtig Scheiße gebaut oder
so. Meine Eltern haben fast nie mit ihm gemeckert, im Gegenteil. Und alle mögen
ihn immer gleich, egal, wo er hinkommt, er sieht ja auch gut aus und so, er is nett.
Und trotzdem kein blöder Schleimscheißer, ich mein, nich so wie die, die den
Lehrern in'n Arsch kriechen, die bloß so tun, als ob. Wenn er zu einem nett
war, dann hat er das auch so gemeint. Mann, ich red, als ob er tot war!«
»Und deine Eltern haben ihn
echt bevorzugt?«
»Klar. Mein Vater kommt ja
immer bald um vor Stolz, wenn er von seinem tollen Sohn erzählt, das musste dir
mal anhörn! Aber komischerweise war ich trotzdem nie richtig neidisch. Er is eben
mein Bruder, und er war nie irgendwie doof zu mir oder so, er hat zu mir
gehalten. Wahrscheinlich is man nich neidisch auf einen, den man mag, oder?«
»Hm«, macht Romy. Sie sieht
aus, als müsste sie da erst mal drei Tage drüber nachdenken. »Wahrscheinlich
nich«, sagt sie schließlich.
»Hättest du gerne
Geschwister?«, frag ich sie, bloß so aus Neugierde.
»Nein!« Das kam wie aus der
Pistole geschossen. »Wieso nich?«
»Ach, ich weiß nich. Ich kanns
mir einfach nich vorstellen.« Ich glaub, sie hat recht. Ich kanns mir auch
nicht vorstellen bei ihr.
»Das Schlimmste war n
Zwilling«, sagt sie. »Zwillinge find ich gruselig. Ich mein, eineiige. Allein
schon die Vorstellung: Da is einer, der is genauso wie du! Das macht mich ganz
krank, wenn ich nur dran denke!«
Meine Eltern wahrscheinlich
auch. Ich muss an den Spiegel denken. Ich glaub, ich weiß, was sie meint.
»Ich mein, fühlt man sich da
überhaupt
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