Zauber der Vergangenheit
wahrscheinlich das ganze Dorf nach uns absuchen.
»Mist, das ist eine Sackgasse!«, hörte ich Drew.
Ich drehte mich um. Die Stimmen kamen näher. Was sollten wir bloß machen? Wenn wir die Gasse zurückgingen, liefen wir ihnen womöglich direkt in die Arme. Plötzlich bemerkte ich aus dem Augenwinkel einen Schatten. Ich sah genauer hin. In einiger Entfernung stand ein Mann, der mir unheimlich bekannt vorkam. War das Anthony? Ich konnte es nicht genau erkennen. Jedenfalls winkte er uns zu sich und deutete auf etwas im Mauerwerk. Dann verschwand er in ebendiesem.
»Drew, komm mit. Ich weiß, wo wir hinkönnen.« Ich lief voran.
»Violet, wir werden ihnen direkt ins Messer laufen.«
»Vertrau mir einfach«, rief ich über meine Schulter und lief los.
Als wir die Stelle erreichten, an der ich den mysteriösen Anthony-Doppelgänger gesehen hatte, erkannte ich eine Öffnung im Mauerwerk, die gerade breit genug war, dass sich eine Person hindurchzwängen konnte.
»Drew, beeil dich!« Ich quetschte mich durch den Spalt.
Mit vereinten Kräften schafften wir es, das Mädchen ebenfalls hindurchzubugsieren. Gerade als die ersten Schritte von draußen zu hören waren, schlüpfte Drew als Letzter hinein.
»Haben sie dich gesehen?«, fragte ich beunruhigt.
»Nein, ich glaube nicht«, gab er atemlos zurück und setzte das Mädchen behutsam neben mir ab. Dann legte er einen Finger an die Lippen und bedeutete mir still zu sein. Ein Paar Beine blieb vor dem Mauerspalt stehen. Ich traute mich nicht einmal zu atmen.
»Hier ist niemand«, hörte ich eine männliche Stimme.
»Vielleicht sind sie in die andere Richtung gelaufen«, hörte ich eine weitere Stimme.
»Oder die kleine Hexe hat sie einfach verschwinden lassen«, sagte der Erste wieder.
»Komm, lass uns weitersuchen!«
Das Paar Beine bewegte sich in die Richtung, aus der es gekommen war. Erst als die Schritte der Männer leiser wurden, traute ich mich, wieder regelmäßig zu atmen.
»War das vielleicht knapp«, flüsterte Drew und atmete einmal geräuschvoll ein und aus.
Ich ließ mich erleichtert in den Strohhaufen hinter mir zurücksinken. Wir waren in einer Scheune gelandet. Außer uns schien niemand hier zu sein. Vielleicht hatte ich mir den Mann doch nur eingebildet. Drew riss mich unsanft aus meinen Gedanken.
»So und jetzt verrätst du mir mal, was das eigentlich sollte. Warum musstest du auf diesen Scheiterhaufen klettern? Bist du eigentlich noch ganz bei Trost? Du kannst doch nicht einfach in den Lauf der Dinge hier eingreifen«, fauchte er mich an.
»Ich weiß es nicht. Ich hab nicht darüber nachgedacht« antwortete ich erschrocken.
»Genau das ist das Problem, Violet. Du denkst nicht nach. Wir hätten dabei draufgehen können, ist dir das eigentlich bewusst?« Er funkelte mich böse an. So sauer hatte ich ihn noch nie erlebt.
»Ich konnte sie doch nicht einfach so ihrem Schicksal überlassen«, verteidigte ich mich.
»Doch, genau das hättest du tun sollen«, entgegnete er kalt.
»Aber dann wäre sie jetzt tot«, protestierte ich entsetzt.
»Und genau so hätte es sein sollen.«
»Wie kannst du so etwas sagen, wo du genau weißt, dass es Unrecht ist?«
»Weil das eben der Lauf der Geschichte ist.«
»Das ist nicht richtig.« Ich schüttelte verständnislos den Kopf.
»Natürlich ist es das nicht, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass du dich nicht einmischen darfst.«
»Habe ich aber«, entgegnete ich trotzig.
»Lass uns hoffen, dass sich das nicht negativ auf unsere Zeit auswirkt.«
»Jetzt mach aber mal einen Punkt, Drew! Nur weil sie nicht auf dem Scheiterhaufen gestorben ist, heißt das nicht, dass sie unsterblich ist. Dann wird sie eben im hohen Alter an Schwindelsucht sterben oder was es hier so gibt.«
»Das heißt Schwindsucht, aber darum geht es auch gar nicht. Es geht darum, was sie in der Zwischenzeit alles anstellen wird.«
»Kühe melken, Schafe hüten, Idioten wie dich in Kröten verwandeln …«
»Das ist überhaupt nicht lustig, Violet.«
»Weißt du was, Drew? Du kannst mich mal gernhaben.«
Ich rappelte mich auf und stapfte sauer davon. Mir reichte es jetzt.
»Das ist wirklich sehr erwachsen, Violet.«
Ich antwortete nicht, sondern setzte mich ein Stück weit entfernt in einen anderen Heuhaufen. Eine Weile schwiegen wir uns an. Ich nahm mir ein paar Halme und begann sie zu flechten. Irgendetwas musste ich ja tun, während wir hier auf die Dunkelheit warteten. Vorher würden wir unser Versteck nämlich
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