Zauber der Vergangenheit
nicht ungesehen verlassen können. Schon gar nicht mit einer Bewusstlosen im Schlepptau.
Nach und nach wurde der Lichtschein, der durch die Maueröffnung fiel, schwächer, bis er schließlich ganz verschwand. Drew sprach immer noch nicht mit mir. Ich spähte zu ihm hinüber. Er hatte die Augen geschlossen. Seine Brust hob und senkte sich gleichmäßig. Anscheinend war er eingeschlafen.
Ich selbst fühlte mich kein Stück müde. Ich war viel zu aufgekratzt, als dass an Schlaf zu denken gewesen wäre. Zu viele Gedanken gingen mir durch den Kopf. Ich betrachtete nachdenklich meine Hand. Wie hatte das Mädchen es geschafft, mir eine Nachricht über meinen Ring zukommen zu lassen? War sie tatsächlich eine Hexe? Sie hatte zumindest rote Haare … »Oh Mann, Violet, das ist doch nicht dein Ernst« , ermahnte ich mich selbst. »Das ist ja genau so, als würdest du sagen, alle schwarzen Katzen brächten Unglück.«
Ich erwachte aus meinen Gedanken, als ich ein Geräusch an der Scheunentür hörte. Ich erstarrte. Wenn man uns jetzt hier fand, wären wir völlig schutzlos. Drew schlief und das Mädchen war auch immer noch nicht aufgewacht. Ich war die Einzige, die die herannahende Gefahr wahrnahm. Ich hörte eine leise Stimme. Es war die Stimme eines Mannes, doch ich konnte nicht verstehen, was er sagte. Ich wusste nur, dass er uns immer näher kam. Ich musste ihn irgendwie ablenken, ihn von unserem Versteck weglocken. So leise wie möglich stand ich auf und schlich um den Heuhaufen herum. Im schwachen Mondlicht, das zum Scheunentor hereinfiel, konnte ich eine schwarze Silhouette erkennen. Der Mann war von stämmiger Statur und murmelte ständig irgendetwas vor sich hin. Er führte Selbstgespräche. Ich huschte leise zum Tor. Dort stand, an die Wand gelehnt, ein ausgedienter Besen. Das war meine Chance! Im Vorbeigehen stieß ich ihn um. Das Geräusch blieb, wie erhofft, nicht unbemerkt. Der schwarze Schatten des Mannes drehte sich zu mir um und steuerte nun direkt auf mich zu. Ich hatte es geschafft. Ich hatte ihn von unserem Versteck weggelockt. Leider war das aber auch schon das Ende meines genialen Plans. Der Mann kam immer näher, bis er nur noch wenige Meter vor mir stand. Mein Puls begann zu rasen. Drew hatte Recht. Ich dachte einfach nicht nach, bevor ich etwas tat. Was sollte ich denn jetzt bloß machen? Instinktiv trat ich den Rückzug an und machte ein paar Schritte hinaus in die Nacht. Im nächsten Moment schnappte mich jemand aus dem Hinterhalt. Mit einer Hand hielt er mir den Mund zu, mit der anderen zog er mich zur Seite. Ich versuchte mich zu wehren, doch er ließ mich nicht los. Ich trat und schlug energisch um mich.
»Scht … scht … scht«, hörte ich ihn an meinem Ohr. Ich hörte auf zu zappeln. Die Stimme kam mir bekannt vor.
»Keine Angst, dir passiert nichts. Ich bin es nur«, hörte ich ein Flüstern. Ich blickte über meine Schulter. Anthony ließ mich los und legte einen Finger auf die Lippen. Dann schob er sich vor mich. In einer Hand hielt er etwas, das wie eine Brechstange aussah. Er postierte sich damit direkt neben der Tür. Von drinnen waren Schritte zu hören, die sich uns näherten. Als der Mann zum Tor herauskam, schlug Anthony ihn mit einem einzigen Schwung nieder. Er sackte unter einem lauten, schmerzverzerrten Stöhnen zusammen. Ich starrte entsetzt auf den leblos am Boden liegenden Körper.
»Ist er …?«, begann ich und zitterte am ganzen Körper.
»Tot? Nein, nur bewusstlos.« Er drehte den Mann auf den Rücken. Er blutete aus der Nase.
Anthony sah mich an und obwohl ich ihn noch nicht besonders lange kannte, hatte ich das Gefühl, als ob er auf eigenartige Weise durch mich hindurch- und in mich hineinsehen konnte. Immer, wenn er mich ansah, kam ich mir irgendwie nackt vor. Nicht im körperlichen Sinne, sondern so, als könne er meine Gedanken lesen oder erraten.
»Was machst du hier?«, fragte ich.
»Weißt du, ein einfaches Danke reicht auch«, überging er meine Frage.
»Oh, … ja, … ähm, … danke«, stammelte ich verlegen.
»Gern geschehen«, entgegnete er und stützte sich lässig auf die Brechstange. »Und um deine Frage zu beantworten, ich war zufällig in der Gegend.«
Ich zog eine Augenbraue hoch, wie es meine Mutter immer bei mir tat, wenn sie mir nicht glaubte.
»Jetzt sieh mich doch nicht so an«, feixte er.
»Du erwartest doch nicht, dass ich dir das glaube«, entgegnete ich und verschränkte die Arme. Er sah mich belustigt an.
»Na gut, ich hab
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