Zauber der Vergangenheit
alle Hoffnung aufgegeben hatte.«
»Ich bin mit Sicherheit kein Engel«, wandte ich ein und drehte mich zu ihm um. Er nahm meine Hand und legte eine weitere Kerze hinein. Dann schloss er seine Hand um meine und sagte: »Diese Kerze ist für Lilian Haimsworth, deren Mut und Opferbereitschaft im Angesicht der größten Gefahr unser aller Leben gerettet hat.« Unsere Blicke trafen sich für einen kurzen Augenblick. Anthony sah traurig und gequält aus.
»Diese Kerze ist für Lilian Haimsworth«, ergänzte ich, »die alles verloren hat und dennoch mehr zu geben bereit war, als wir alle zusammen.«
Gemeinsam entzündeten wir die dritte Kerze. Eine Weile betrachteten wir das Meer aus kleinen Flammen. In der Kirche war es vollkommen still. Schließlich wandte Anthony sich zu mir um.
»Violet, ich muss dir etwas sagen. Ich habe dich nicht an Joshua Scott verraten.«
»Ich weiß. Drew und Lilian haben mir alles erzählt.« Er sah betreten zu Boden. »Du hättest es mir sagen können«, fügte ich hinzu.
»Dann hätte ich riskiert, dass dir etwas passiert«, entgegnete er.
»Vielleicht. Aber vielleicht wäre ich dann um die Peinlichkeit herumgekommen, mich in dich zu verlieben, obwohl dein Interesse an mir nur gespielt war.«
»Violet, das …«
»Nein, sag es lieber nicht«, wehrte ich ab. »Ich möchte das Thema lieber nicht vertiefen.« Er sah mich immer noch mit diesem gequälten Ausdruck in den Augen an.
»Es tut mir wirklich leid«, sagte er und legte seine Hand an meine Wange, »dass ich dir nicht das geben konnte, was du dir gewünscht hast«. Seine Hand war eiskalt. Er schien ziemlich nervös. Ich legte meine Hand auf seine, umschloss sie sanft und nahm sie weg.
»Entschuldigung angenommen«, sagte ich mit einem traurigen Lächeln. Dann erhob ich mich langsam und ging zurück zur Treppe, die in den ersten Stock führte. Ich sah mich noch einmal um. Anthony saß auf einer Bank und starrte in die Flammen der Kerzen. Nicht zurückblicken , ermahnte ich mich selbst. Du musst nach vorne schauen . Dennoch konnte ich mir eine Träne nicht verkneifen. Ich blinzelte sie entschlossen weg, als ich am Absatz der Treppe die Gestalt meines Großvaters entdeckte.
»Na, habt ihr alles klären können?«, fragte er. Ich nickte.
»Ich denke schon.« Leider kam es nicht so souverän heraus, wie es klingen sollte. Langsam stieg ich die Stufen hinauf.
Oben angekommen fiel mein Blick als Erstes wieder auf Drews Lager. Er saß mittlerweile aufrecht und wirkte viel lebendiger als eben. Dafür sah Lilian noch schlechter aus als zuvor, soweit das überhaupt noch möglich war. Ich setzte mich zu den beiden.
»Lilian, bist du in Ordnung?«, fragte ich besorgt. »Du siehst schlecht aus.«
»Es ist nichts«, sagte sie. »Ich werde schon wieder. Drew braucht die Energie im Moment nötiger als ich.« Da verstand ich, was sie tat. Die ganze Zeit über hatte sie Drews Hand nicht losgelassen. Sie leitete die Energie ihres Körpers um auf Drew. Deshalb sah sie so krank und blass aus. Sie gab ihr Leben für seines. Da begriff ich, dass sie nicht nur aus reinem Pflichtgefühl ihm gegenüber handelte. Sie liebte ihn tatsächlich. Und zwar so sehr, dass sie für ihn sterben würde.
»Lilian …« Vorsichtig fasste ich nach ihrer Hand und löste sie aus Drews. »Du kannst jetzt aufhören. Drew geht es gut.« Sie sah mich an, als sei sie aus einer Trance erwacht. Jemand räusperte sich geräuschvoll hinter uns. Es war mein Großvater. Langsamen Schrittes kam er auf uns zu. Hinter ihm erkannte ich im schwachen Schein einer Kerze Anthonys Silhouette. Er blieb jedoch am Treppenabsatz stehen und beobachtete uns aus der Distanz.
»Wie ich sehe, geht es dir besser, Andrew«, sagte er und musterte ihn von oben bis unten. »Aber Sie, mein liebes Kind, sollten sich nun ein wenig erholen«, fügte er an Lilian gewandt hinzu. »Ich werde eine der Ordensschwestern bitten, sich um Sie zu kümmern, wenn Ihnen das recht ist.« Lilian nickte kaum merklich. Schon kam eine kleine rundliche Frau in Ordenstracht aus dem Dunkel zu uns herüber und beugte sich zu ihr hinab. Mit einem aufmunternden Lächeln bot sie ihr ihre Hand an. Lilian nahm sie und ließ sich von der Schwester aufhelfen. Mit einem letzten sehnsüchtigen Blick auf Drew ging sie schließlich mit ihr mit. Ich sah den beiden hinterher, bis sie hinter einer schmalen Holztür verschwunden waren.
»Ich fürchte, es wird nun Zeit Abschied zu nehmen«, sagte mein Großvater ruhig aber bestimmt.
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