Zauber der Versuchung: Roman (German Edition)
fühlen.
Und gerade als sie dachte, es wäre sicher, wieder zu atmen, vorsichtig und zaghaft, überkam sie ein unglaublicher Schmerz, der sie mit einer Wucht erfasste, dass sie meinte, überhaupt keine Luft mehr zu bekommen. Er ähnelte jenem Schmerz, den sie empfunden hatte, als sie von Lucians Untreue erfuhr. Und vor allem war er ähnlich dem, der sie überfiel, als er starb. Dennoch, wenn sie genau in sich hineinhorchte, war da dann nicht auch ein winziges bisschen Erleichterung dabei gewesen, wenngleich mit Schuldgefühlen gemischt? Es war ein Teufelskreis aus Schmerz und Erleichterung, Schuld und Selbstvorwürfen gewesen. Und alles war einzig und allein ihr Fehler, damals wie heute.
Gideon hatte recht, aber das hatte sie vorher bereits gewusst. Sie hatte ihre Vergangenheit nicht hinter sich gelassen, und damit meinte sie nicht etwa ihre Abenteuer. Denn so angenehm und nett ihre Zeit mit Jonathon, Harry und Samuel auch gewesen sein mochte, sie war letztlich bedeutungslos. Sie hatte nicht zugelassen, dass ihr diese Affären etwas bedeuteten. Insofern hatte Susanna ebenfalls recht. Aus jedem ihrer Abenteuer hätte weit mehr werden können, wäre sie nicht stets entschlossen gewesen, sie zu beenden, bevor daraus etwas Ernsteres, gar Dauerhaftes wurde.
Warum aber hatte sie nicht verhindert, dass es mit Gideon anders wurde – besonders, kostbar, unerwartet? Gut möglich, dass sie bei ihm einfach nicht auf der Hut gewesen war. Schließlich kannte sie ihn seit Jahren flüchtig. Wer hätte sich da vorstellen können, dass sie eines schönen Tages in seine dunklen Augen blickte, Augen, die ihr nie besonders aufgefallen waren, und sich plötzlich von Verlangen, von Leidenschaft und Gefühlen hinreißen ließ, von denen sie glaubte, sie nie wieder empfinden zu können, ja, die sie möglicherweise überhaupt noch nie empfunden hatte? Le coup de foudre. Man sieht in jene Augen, und ohne Vorwarnung erkennt man seinen Seelenverwandten, obwohl man es erst später begreift. Und dann ist es zu spät, weil man bereits den Klang seines Lachens kennt, die Berührung seiner Hände, die Warmherzigkeit seines Wesens. Falls jedoch Gideon ihr Seelenverwandter war, zu was wurde dann Lucian? Zu einem furchtbaren Fehler?
Auch das hatte sie im Grunde ihres Herzens längst begriffen. Nur war es ungleich leichter gewesen, nicht darüber nachzudenken, sich nicht der Wahrheit zu stellen. Wenn ihre Heirat kein Fehler gewesen war, wenn sie die Ehefrau gewesen wäre, die er brauchte, die Frau, die seine Seele retten konnte, die Frau, die sie hätte sein müssen , dann hätte er sich nicht das Leben genommen. Hätte sie sich nicht gewehrt, ihn nicht aus ihren Gemächern ausgesperrt, ihm nicht angedroht, ihn zu verlassen... Aber was sie getan hatte, entsprach eben dem, wer sie war. Und das konnte sie ebenso wenig ändern, wie sie die Vergangenheit ändern konnte. Sie hatte Lucians Tod zu verantworten. Und dafür war ein Preis zu zahlen, eine Strafe zu verbüßen. Die bestünde darin, nicht nur nie wieder zu heiraten und für immer allein zu leben, sondern darüber hinaus nun offensichtlich auch noch in einem Weiterleben mit der Gewissheit, es nicht mit dem Mann tun zu können, dem ihr Herz gehörte.
Es war höchste Zeit, dass sie dieses besondere Abenteuer beendete. Allein der Gedanke zerriss sie beinahe innerlich, und sie sehnte sich nach der Taubheit, die sie wenige Momente zuvor noch empfunden hatte. Gideon würde sie auf keinen Fall einfach so gehen lassen. Also musste sie es so anstellen, dass ihm gar keine andere Wahl blieb. Immerhin war es Teil ihrer Vereinbarung. Und selbst wenn er sich weigerte, ihre Bedingungen zu akzeptieren, so hatte er doch versprochen, dass jeder von ihnen die Sache beenden könnte, ohne dass der andere ihm Vorwürfe machte. Was auch immer er vorbringen würde, sie brauchte ihn bloß an sein Wort zu erinnern.
Und danach würde sie gehen, vollständig aus seinem Leben verschwinden. Sie hatte Samuel gesagt, sie würde nicht fliehen, aber mit Gideon zu fliehen war auch etwas ganz anderes, als ohne ihn zu flüchten. Ja, Flucht schien eine ausgezeichnete Idee zu sein. Weit besser jedenfalls, als Gideon wieder und wieder zu begegnen, was unumgänglich war, wenn sie in London bliebe. Und sie wollte ihn nicht für den Rest ihres Lebens vor Augen haben. Sie wollte nicht miterleben, wie er die junge, jungfräuliche Frau fand, die er unweigerlich heiraten würde. Sie wollte die Kinder nicht sehen, die er mit ihr bekäme, und
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