Zauber der Versuchung: Roman (German Edition)
Höflichkeiten austauschte, wenn man sich bei einem gesellschaftlichen Anlass begegnete. Mehr nicht. Erst beim Twelfth-Night-Ball, den sie vor über einem Monat gab, war aus den paar höflichen, nichtssagenden Nettigkeiten zwischen ihnen ohne jede Vorwarnung mehr geworden, etwas Bedeutsames und zugleich Undefinierbares. Was es auch sein mochte, es hatte Gideon mit der Kraft eines Blitzschlags getroffen. Ganz unvermittelt nahm er etwas wahr, dass er nicht zu benennen vermochte – vielleicht einen verwandten Geist, ein mögliches Abenteuer oder eine bis dahin unerwartete und unvorstellbare Zuneigung. Einer seiner Freunde meinte an jenem Abend, es läge etwas Magisches in der Luft. Das war natürlich Unsinn gewesen. Dennoch, Gideon wollte jener Moment nicht mehr aus dem Kopf gehen, sondern er verharrte gleich unter der Oberfläche seines wohlgeordneten Lebens. Wären die Umstände andere, hätte er nicht gezögert, der Witwe seine Aufwartung zu machen. Doch bei aller Faszination hatte er auch deutlich gespürt, dass Vorsicht geboten war. Das war ebenfalls sehr seltsam. Gideon war von Natur aus ein vorsichtiger Mensch, hatte aber noch nie im Zusammenhang mit einer Dame besondere Vorsicht für nötig erachtet – nicht einmal, als er besser daran getan hätte. Auf jeden Fall war diese Sache beängstigend unwiderstehlich.
Er stieß die Glastür zur Terrasse auf und erschrak kurz ob der Kälte des Februarabends. Aber was machte die schon, wo es doch ungewöhnlich klar für die Jahreszeit war? Lady Chesters Silhouette zeichnete sich deutlich vor dem Sternenhimmel ab. Sie stand kaum fünf Meter vom ihm entfernt und blickte in die Nacht. Gideon machte ein paar Schritte auf sie zu, dann blieb er stehen. Seit Jahren war er sich seiner zum ersten Mal nicht ganz sicher.
»Fanden Sie es dort drinnen ebenfalls zu stickig, oder hegen Sie dieselbe Abneigung gegen schlecht geschriebene Poesie wie ich?«, fragte Lady Chester, ohne sich zu ihm umzudrehen. Ihre Stimme hatte einen unverkennbar amüsierten Unterton.
»Beides, würde ich sagen.« Gideon lachte leise. »Aber ist es klug, Bemerkungen über die Atmosphäre und die Unterhaltung zu machen, ohne erst einmal nachzusehen, wer sich zu Ihnen gesellt? Sie konnten schließlich nicht wissen, ob ich womöglich Lady Dinsmore bin, die herkommt, um Sie zur Herde zurückzutreiben.«
Sie lachte, und ihr Lachen war so klar und schön wie die Sternennacht. »Ich wusste genau, wer sich zu mir gesellt, Mylord.«
»Ach ja?« Er trat näher, und mit jedem Schritt beschleunigte sein Herzschlag ein bisschen mehr. »Wie?«
»Wer sich in der Nähe des diskretesten Ausgangs aufhält, statt sich neben seine Tante zu setzen, die wahrscheinlich auf seine Anwesenheit insistierte, wartet offensichtlich auf eine Fluchtgelegenheit. Außerdem«, sie wandte sich zu ihm um, »haben Sie mich den ganzen Abend beobachtet.«
»Habe ich?«
»O ja, Sie haben.«
»Und Ihnen ist es aufgefallen?«
»Durchaus.«
»Weil Sie mich ebenfalls beobachteten?«
»Richtig.« Sie lachte. »Aber ich glaube, ich war weit subtiler.«
»Aha?«
»Sie haben nicht bemerkt, dass ich Sie beobachtete, wohingegen ich...«
Er lachte. »Ich habe Sie verstanden.«
Sie sah ihn eine Weile an. Ihr Gesicht wurde vom schwachen Lichtschein aus den Fenstern und Türen erhellt. »Und warum haben Sie mir nicht Ihre Aufwartung gemacht?«
Sein Lächeln wurde breiter. »Hatten Sie erwartet, dass ich es tue?«
»Ja, habe ich.«
»Nun, leider fehlte mir dazu der Mut.« Er machte eine reuevolle Miene. »Ich bin nicht halb so wagemutig, wie ich nach außen scheinen mag.«
»Das bezweifle ich. Bin ich denn so furchteinflößend?«
»Ja.« Das Wort war schneller heraus, als er nachdenken konnte. Er schüttelte den Kopf. » Furchteinflößend trifft es eigentlich nicht.«
Sie neigte den Kopf leicht zur Seite und schaute zu ihm auf. »Und was wäre der richtige Ausdruck?«
»Bezaubernd, verlockend, faszinierend, beängstigend.« Er machte eine kurze Pause. »Geheimnisvoll.«
»Geheimnisvoll?« Sie lachte. »Na schön, beängstigend werde ich fürs Erste durchgehen lassen, aber verraten Sie mir, warum ich geheimnisvoll bin. Mir scheint mein Leben ein ziemlich offenes Buch, in dem bislang niemand zu lesen zögerte. Ich wage sogar zu behaupten, dass jeder buchstäblich alles über mich weiß.«
»Alles?«
»Vielleicht nicht alles, aber annähernd alles. Ich habe sehr wohl ein paar Geheimnisse. Jede Frau sollte welche haben, wissen Sie. In den
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