Zauber der Versuchung: Roman (German Edition)
Immerhin war der Earl alt genug, um Judiths Vater zu sein. Nicht dass Alter für Thornecroft je ein Hindernis gewesen war, soweit Gideon hörte. Ganz im Gegenteil, man könnte fast behaupten, Judith wäre zu alt für ihn. Dennoch schien diese beiden eine Leidenschaft zu verbinden, die nichts mit den üblichen Beziehungen zwischen Männern und Frauen zu tun hatte. Und das war es, wie Gideon plötzlich feststellte, was ihn neidisch machte.
Judith runzelte die Stirn. »Ich dachte, Sie sollten dieser Tage auf dem Amazonas den Elementen trotzen, auf der Suche nach einer seltenen Lilienart?«
»Ich musste meine Pläne ändern. Mein Neffe und einziger lebender Verwandter beschloss, endlich doch noch nach London zurückzukehren. Er war jahrelang fort«, erklärte der Earl und schüttelte den Kopf. »Die Wildnis Südamerikas kann warten.«
»Ich bin mir nicht sicher, wie lange ich noch warten kann«, sagte Judith seufzend. »Ich würde zu gern die Orchideen Kolumbiens mit eigenen Augen sehen.«
»Wie mir zu Ohren kam, wird zurzeit in Paris eine Expedition zusammengestellt.« Thornecroft sah Judith nachdenklich an. »Oder sollten wir vielleicht unsere eigene Expedition finanzieren?« Schlagartig ging ein Leuchten über sein Gesicht. »Ich weiß, es klingt abwegig, aber ich hätte längst darauf kommen müssen. Wir beide bringen doch genügend Mittel auf, um weitere...«
»Als Kind wollte ich immer den Dschungel erforschen«, entfuhr es Gideon gänzlich unbeabsichtigt, und er wollte sich ohrfeigen. Ich wollte den Dschungel erforschen? Wo in aller Welt kam das denn her?
Judith und Lord Thornecroft starrten ihn an.
Gideon rang sich ein Lächeln ab. »Irgendwie muss es mir im Laufe der Jahre entfallen sein.«
»Schade.« Judith versuchte es, konnte ein Lächeln jedoch nicht unterdrücken.
»Vielleicht können Sie es nachholen, mein Junge. Sollten wir beschließen, unsere Mittel zusammenzuwerfen und eine eigene Expedition zu finanzieren, nun, dann könnten Sie sich zu uns gesellen.«
»Vortrefflich«, sagte Gideon trocken. Eine Expedition, um im Dschungel nach Blumen zu suchen? Wohl kaum. Andererseits hatte er gewiss nicht vor, Judith mit irgendjemand anderen in die südamerikanische Wildnis reisen zu lassen, schon gar nicht mit Thornecroft.
Der Earl sah ihn an, als wüsste er genau, was in dem Jüngeren vorging. »Ich mag wie ein alternder, unverbesserlicher Wüstling wirken, und zugegebenermaßen bin ich es in mancherlei Hinsicht auch, aber meine Gefühle für Judith haben nichts mit meiner unrühmlichen Reputation in Bezug auf Frauen zu tun. Ich empfinde eine Zuneigung für sie, die sich in nichts von der unterscheidet, wie ich sie für ein Familienmitglied hegen würde.«
Gideon hob eine Braue. »Wie für eine Tochter?«
»Heiliger Himmel, nein!« Thornecroft erschauderte. »Ich habe Väter von Töchtern erlebt und nicht vor, diese Hölle am eigenen Leib zu erfahren«, erklärte er und nickte nachdenklich. »Eher wie für eine Nichte.«
»Ich fühle mich geehrt, Frederick.« Judith beugte sich vor und hauchte dem Earl einen Kuss auf die Wange. »Und Sie sind mein Lieblingsonkel.«
»Ich dachte mir, dass du heute Abend hier bist.« Eine große, blonde Frau tauchte hinter Judith auf.
Gideon entging nicht, dass Judith kaum merklich zusammenfuhr. Nichtsdestotrotz rang sie sich ein Lächeln ab und drehte sich um, die Fremde zu begrüßen. »Guten Abend, Alexandra. Ich wusste gar nicht, dass du dich für Orchideen interessierst.«
Die Blonde lächelte freundlich, und doch hatte Gideon den Eindruck, dass es alles andere als freundlich gemeint war. »Was dich interessiert, liebe Schwester, interessiert auch mich.«
Schwester?
»Guten Abend, Miss Chester«, sagte Lord Thornecroft, der seinen knappen Gruß zu höflich aussprach, als dass man ihn der Unhöflichkeit bezichtigen könnte.
Miss Chester?
»Wenn Sie mich entschuldigen, ich muss noch mit jemandem sprechen, den ich heute unbedingt treffen wollte.« Der Earl warf Judith ein aufmunterndes Lächeln zu, bevor er sich an Gideon wandte. »Ich überlasse Lady Chester Ihrer bewährten Obhut.« Dabei sah er Gideon mit einem solch warnenden Blick in die Augen, dass der nicht genau wusste, ob diese Warnung sich auf Miss Chester oder Judith bezog. Wahrscheinlich auf beide. Schließlich stand Judith dem Mann so nahe wie eine Nichte.
»Lüsterner alter Bock«, murmelte Miss Chester.
»Ganz und gar nicht«, erwiderte Judith bestimmt. »Er ist ein sehr freundlicher
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