Zauber der Wellen - Feehan, C: Zauber der Wellen - Oceans of Fire (3 - Abigail)
legte eine Hand auf Libbys Rücken, um ihr Halt zu geben. Mit einem kleinen Aufschrei hob sie ihre Handfläche an ihre Lippen. »Du bist glühend heiß, Lib.« Ihre Finger fühlten sich verbrüht und wund an.
Sie konnte Tyson nicht im Stich lassen, wenn sie bedachte, wie brillant er war und dass er diesen unglaublichen Verstand besaß, der in der Lage war, so viel Gutes zu tun. Sie durfte nicht einfach fortgehen. Libby hörte Linda wie aus weiter Ferne; Worte, die dumpf durch ihren Kopf schwirrten, auf die sie sich aber nicht konzentrieren konnte. Libby stieß sich von der Wand ab und stellte fest, dass sich ihr Körper automatisch in Bewegung setzte und auf das Zimmer zuging, in dem Tyson Derrick in Todesnähe lag.
Nein! Libby, verschwinde sofort. Das ist zu gefährlich.
Elle, die jüngste Drake-Schwester, besaß eine ausgeprägte telepathische Begabung. Libby hörte die Eindringlichkeit in ihrer Stimme, die Furcht, die sich zu Entsetzen ausweitete, doch sie konnte nicht innehalten, obwohl sie erkannte, dass sie nicht nur sich selbst in Gefahr brachte, sondern auch ihre Schwestern. Sie waren so eng miteinander verbunden wie vor ihnen ihre Ahninnen. Sie mochten zwar individuelle Gaben besitzen, doch ihre Kräfte und ihre Energien gehörten ihnen gemeinsam und durch eben diese Gaben waren sie auf irgendeine Weise, die sie selbst nicht ganz verstanden, eng miteinander verbunden.
Sie hörte ihr eigenes verzweifeltes Schluchzen und ihr Flehen um Verständnis, als sie sich bei ihren Schwestern dafür entschuldigte, dass sie nicht fähig war, einfach wegzugehen. Sie hielt sich in der Hoffnung an der Tür fest, das gäbe ihr Zeit zum Nachdenken, Zeit zum Umkehren, doch ihre Füße bewegten sich aus eigenem Antrieb voran und trugen sie an die Seite der Krankenliege. Licht strömte aus ihrem Körper heraus und ergoss sich aus ihren Fingerspitzen, als sie auf Tyson zuging.
Libby sah in das bleiche, mit Blut verschmierte Gesicht hinunter. Ihr Herz machte einen Satz. Es war ganz eindeutig der Tyson Derrick, den sie in Erinnerung hatte, obwohl seine stechend blauen Augen geschlossen waren und die schwarzen Wimpern zwei dichte Halbmonde über dunklen Ringen bildeten. Das pechschwarze wellige Haar fiel ihm in die Stirn und einzelne Strähnen klebten in seinem Blut. Seine Schultern waren noch breiter, als sie sie in Erinnerung hatte; in seinen Armen zeichneten sich die Muskeln deutlich ab. Der Atem stockte in ihrer Kehle, und aus irgendeinem seltsamen Grund beschleunigte sich ihr Herzschlag.
Tyson Derrick war der einzige Mann, dem es je gelungen war, ihr unter die Haut zu gehen. Libby war es gewohnt, dass
ihr auf ihrem Gebiet Hochachtung und Respekt gezollt wurden. Sie war brillant, und sie wusste es. Nur ein einziger Mann hatte jemals bessere Noten bekommen als sie. Nur ein einziger Mann hatte jemals herablassend mit ihr geredet und war manchmal so grob gewesen, dass sie sich nachts in den Schlaf geweint hatte. Es war albern, aber sie dachte öfter an ihn, als sie es zugeben wollte. Es hätte ihr nichts ausmachen sollen, dass er sie nicht als gleichwertig respektierte, aber es machte ihr etwas aus. Dieses Wissen verbarg sie tief in ihrem Innern, denn sie schämte sich dafür, dass sie sich ausgerechnet zu einem Mann hingezogen fühlte, der ihr gegenüber so gleichgültig war. Einem Mann, von dem sie nicht einmal eine gute Meinung hatte.
»So viel Blut. So viel Schmerz«, flüsterte sie. Sein Gesicht war grau und wirkte angespannt. Das durfte nicht sein. Tyson Derrick war ein Mann, den die medizinische Welt brauchte. Er sah Dinge, die anderen entgingen, und er war hartnäckig, wenn er nach Antworten suchte.
Libby berührte beide Seiten seines Kopfes mit ihren Fingerspitzen.
Libby! Hör auf! Elle und Hannah schrien den Befehl in ihrem Kopf, und ihre Stimmen klangen verzweifelt. Die Schreie der anderen – Sarah, Kate, Abigail und Joley – hallten durch ihren Verstand und verklangen, als sich die Glut in ihrem Körper anstaute.
Energien ließen die Luft um sie herum knistern. Sie holte tief Atem, um sich zu konzentrieren. Die meiste Zeit verließ sie sich auf die Schulmedizin, aber schon jetzt geriet dieser Ort in ihrem Innern, ein Quell von Energie und Licht, in Bewegung und öffnete sich. Die Kraft strömte durch jede ihrer Zellen und erfüllte sie von Kopf bis Fuß.
Es war zu spät für einen Rückzieher. Sie schien unter Zwang zu handeln und fühlte sich von einem Verlangen gepackt, gegen das sie nicht ankämpfen
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