Zauber-Schloss
Haarsträhnen vom Schwanz einer Harpyie – Harpyien besaßen haarige Federn oder fedrige Haare –, einen Tentakel eines Gewirrbaums, Glassplitter, zusammengeknüpfte Muscheln, ein Amulett, das aus der Mähne eines Zentauren gefertigt worden war, mehrere getrocknete Würmer und ein Mischmasch von weiteren Dingen, die nicht so ohne weiteres zu bestimmen waren.
Doch was im Nest war, war noch viel erstaunlicher. Natürlich gab es Eier, aber es waren nicht die Eier dieses Vogels, denn sie wiesen sämtliche Farben, Größen und Formen auf. Runde Eier, ovale Eier, Eieruhreier; grüne, purpurne, getupfte Eier; ein Ei, das so groß war wie Dors Kopf, und ein anderes, das kaum größer war als sein kleinster Fingernagel. Mindestens eins davon war ein Stopfei aus Alabaster. Es gab auch eine Menge verschiedener Nüsse und Beeren und Schrauben. Es gab tote Fische und lebende Drähte und goldene Schlüssel und messinggebundene Bücher und Tannenzapfen und Eiskremhörnchen. Da lagen eine marmorne Statue eines geflügelten Pferdes und Murmeln aus dem Horn eines Einhorns. Es gab eine Eieruhr mit einer Viertelstunde darin und drei miteinander verbundene Ringe aus Eis. Einen verschmutzten Sonnenstrahl und einen polierten Werwolfköttel. Fünf Golfbälle. Und Dor.
»Hurraah!« schrie der Vogel freudig und flatterte derart mit den Flügeln, daß es im Nest einen kleinen Wirbelsturm gab und Papierfetzen, Blätter und Federn umherflogen. Dann flog er davon. Dieser Vogel liebte es offenbar, Dinge zu sammeln. Dor war ein Teil seiner Sammlung geworden. War er wohl der erste Mensch, der auf diese Weise ins Nest gefunden hatte? Es waren keine anderen zu sehen. Oder waren sie aufgefressen worden? Nein, es lagen auch keine menschlichen Knochen herum. Nicht, daß das sonderlich viel heißen mußte. Es hätte ja auch sein können, daß der Vogel die Knochen samt dem Fleisch verdaut hatte. Wahrscheinlich war er für würdig befunden worden, Eingang in die Sammlung zu finden, weil er ausgesehen hatte wie ein fliegender Mensch, und das war etwas sehr Seltenes.
Dor bahnte sich zwischen dem ganzen Plunder den Weg zum Rand des Nestes, damit er hinunterblicken konnte. Doch er sah nichts als ein Blättermeer. Er war sich jedoch sicher, daß er hoch oben im Baum war. Hinunterzuspringen wäre der reinste Selbstmord. Ob er hinunterklettern konnte? Der Ast, auf dem das Nest ruhte, war glatt, rund und feucht. Das Nest fand nur deswegen darauf Halt, weil er sich an seinem Ende gabelte. Dor war sicher, daß er beim Versuch, hinunterzusteigen, herabstürzen würde. Er war eben kein guter Kletterer.
Er wußte, daß er sich bald entscheiden mußte, noch bevor der Hurra-Vogel zurückkehrte, aber er war wie gelähmt, weil er nicht genau wußte, was er tun sollte. Springen bedeutete Fallen und sicheren Tod; Klettern bedeutete Fallen und sicheren Tod. Hierbleiben bedeutete – gefressen zu werden? »Ich weiß nicht, was ich tun soll!« rief er, den Tränen nah.
»Das ist doch ganz einfach«, sagte die Einhornfigur. »Mach ein Seil aus Teilen des Hurra-Nests und laß dich daran hinunter.«
»Aus meinen Teilen nicht!« protestierte das Nest.
Dor ergriff ein Stück Kordel und riß es aus dem Nest. Es zerriß ohne große Anstrengung. Er versuchte es mit ein paar Halmen – mit gleichem Ergebnis. Auch der Stoff war brüchig. Er versuchte es mit dem Silberdraht, aber der war so fein, daß er ihm in die Hand schnitt. »Du hast recht, Nest«, sagte er. »Aus deinen Teilen nicht.« Er blickte sich jedoch weiterhin um. »Irgendwelche anderen Vorschläge, Dinge?«
»Ich bin ein magischer Ring«, sagte ein goldener Kreis. »Lege mich an und wünsch dir was, wünsch dir was, wünsch dir einfach irgendwas. Ich bin allmächtig.«
Wie war er dann hier oben gelandet? Aber er konnte es sich nicht leisten, wählerisch zu sein. Dor schob ihn auf seinen kleinen Finger. »Ich wünsche mir, auf dem Boden in Sicherheit zu sein.«
Nichts geschah. »Dieser Ring ist ein Lügner«, meinte der Werwolfköttel knurrend.
»Bin ich nicht!« rief der Ring. »Es dauert nur ein bißchen. Nur ein bißchen Geduld. Vertrau mir. Ich bin aus der Übung, das ist alles.«
Diese Behauptung erntete ein abfälliges Gelächter bei den anderen Gegenständen im Nest. Dor schob einige Dinge beiseite und legte sich hin, um nachzudenken, doch sein Verstand ließ ihn im Stich.
Dann schob sich ein haariges Bein über den Nestrand. Ihm folgte ein weiteres und schließlich ein Paar riesiger grüner Augen, die
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