Zauberflötenrache: Meranas dritter Fall (German Edition)
überlegt,
den Dienst zu quittieren. Zu Meranas Erleichterung hatte sie es sich dann doch anders
überlegt. Ihr Vorhaben, in eine andere Stadt zu ziehen, hatte vielleicht auch mit
ihm zu tun. Natürlich wussten sie beide, dass zwischen ihnen mehr war, als nur kollegiale
Sympathie. Aber es war so schwer, darüber zu reden. Für ihn vielleicht noch mehr
als für sie. Er sah noch einmal auf die Uhr. Sollte er vielleicht jetzt noch hinfahren?
Falls sie schon zuhause war, wäre sie sicher noch nicht zu Bett gegangen. Sie hatte
einen fünftägigen Kurs in Wien absolviert. Die Ausbildung hatte bis heute Abend
gedauert. Der Spätzug war erst vor einer knappen halben Stunde angekommen. Er stellte
sich ihr Gesicht vor, wenn sie ihm die Tür öffnete. Das Lächeln, das sie für ihn
immer hatte, würde ihm auch dieses Mal gut tun. Er hob die Beine vom Tisch und stand
unschlüssig auf. Er war schon halb an der Tür, als sein Handy läutete. Es war Birgit.
Das sah er am Display. Für einen Moment überlegte er, das Gespräch nicht anzunehmen.
Immerhin hatte er seit gestern drei Mal versucht, sie zu erreichen, und sie hatte
nicht abgehoben. Dann drückte er doch die grüne Taste. Ihre Stimme klang nicht mehr
so reserviert wie am Tag davor. Sie schlug einen Tonfall an, der irgendwie Verständnis
signalisierte und Verständnis erwartete. »Ich wollte dir nur sagen, Martin, dass
ich mich entschlossen habe, ein paar Tage wegzufahren. Ich brauche etwas Abstand.
Liliane kommt mit.« Liliane? Ihre Schwester? Mit der verstand sie sich doch gar
nicht so gut. Die Frau Universitätsdozentin sah doch immer nur hochnäsig auf die
kleine Mittelschullehrerin herab. »Ich kann noch nicht sagen, wann ich zurück bin.
Aber ich verspreche, mich dann sofort bei dir zu melden.« Kurze Stille trat ein.
Sie erwartete wohl, dass er etwas sagte. »Das finde ich gut, Birgit. Genieß die
Tage.« Hatte er das Richtige getroffen? Oder hätte er etwas anderes sagen sollen?
Sie blieb jedenfalls weiterhin bei ihrem freundlichen Tonfall. »Danke, Martin. Dir
alles Gute bei deinem Fall. Wenn ich wieder da bin, dann reden wir in Ruhe. Gute
Nacht.«
»Dir auch
eine gute Nacht.«
Er blieb
neben der Tür stehen und ließ das Gespräch in sich nachschwingen. Gleichzeitig fielen
ihm Bilder ein, Szenen aus den letzten Jahren. Er sah Birgit mit der großen Trommel
und dem ausgefransten Schlägel in der vordersten Reihe der Demonstranten, die gegen
die Erweiterung des Flughafens protestierten. So hatten sie einander kennen gelernt.
Birgit Moser war Mittelschullehrerin für Deutsch und Biologie und zugleich Abgeordnete
der Bürgerpartei. Seit einem Jahr saß sie in der Gemeindevertretung der Stadt Salzburg.
Sie konnte für die Anliegen anderer kämpfen wie eine Löwin. Dann fiel ihm ein, wie
Birgit jubelnd auf der alten Steinbrücke in Verona gestanden war. Sie freute sich
wie ein Kind über das dunkelblaue Kleid, das sie eben gekauft hatten. Szenen aus
ihren gemeinsamen Unternehmungen zogen an ihm vorüber. Es waren schöne Erinnerungen.
Zugleich schlich ein wehes Gefühl in sein Inneres. Es galt eine Entscheidung zu
treffen. Das war ihm klar. Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar. Er legte
das Handy auf die Anrichte und goss sich ein Glas Rotwein ein. Dann öffnete er seinen
Laptop, der mit der Lautsprecheranlage verbunden war. Er durchstöberte den Musikdateien-Ordner
und klickte auf Hilliard Ensemble . Gleich darauf erfüllte Musik den Raum.
Es war nicht die Zauberflöte. Klänge aus der Renaissancezeit, getragen von den Stimmen
des britischen Vokalquartetts, zogen durch die Stille. Con l’angelico riso. Mit
engelsgleichem Lächeln. Die Gesichter zweier junger Frauen tauchten in ihm auf.
Das eine Gesicht gehörte Andrea. Ihre freudestrahlenden Augen passten zu dem Engelslachen,
von dem das Vokalensemble sang. Das andere Gesicht war das von Emina, die ihm heute
Nachmittag in einer Garderobe der Felsenreitschule gegenüber gesessen war. Die ihn
so sehr an das Bild von Dinharazade erinnert hatte. Beide hatten den gleichen Ausdruck
von leiser Furcht in den Augen. Warum hatte die dumme Göre aus Deutschland heute
im entscheidenden Moment ihren Mund nicht halten können? Ärger stieg in ihm auf.
Er war sich ganz sicher, dass ihm Emina etwas mitteilen wollte und in diesem Augenblick
bereit gewesen war, zu reden. Was wusste die junge Frau? Was hatte sie beobachtet?
Er musste in den nächsten Tagen unbedingt versuchen, noch einmal an das scheue Reh
heranzukommen.
Montag, 27.
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