Zauberhafte Versuchung
sein.
»Ich glaube, Sie irren sich«, sagte sie. »Dies kann unmöglich ein Kloster gewesen sein. Mönche greifen nicht zur Folter - oder höchstens gegen sich selbst vielleicht, aber nicht bei anderen.«
»Dies war eine alte Burg, bevor die Mönche sich hier niederließen«, erklärte Walters. »Aber auch die sind schon ziemlich lange nicht mehr hier.«
»Wenn ihr zwei mit dem Geschichtsunterricht fertig seid, haben wir zu tun«, knurrte Thatcher, während er seine Laterne auf den Boden stellte und sich in dem offenen Raum umblickte. Sein boshaftes Lachen ließ nichts Gutes ahnen. »Mach sie da fest«, forderte er Waters auf und zeigte auf die gegenüberliegende Wand.
Waters folgte seinem Blick, rührte sich aber nicht. »An den Eisenschellen? Ist das nicht ein bisschen roh, Thatcher? Ich meine ...«
Bevor er seinen Satz beenden konnte, brachte Thatcher ihn mit einem scharfen Blick zum Schweigen. »Nein, du Schwachkopf, fessle sie dort an die Wand! Sie ist eine Gefangene, nicht deine Braut.«
Waters zog Esme zu der anderen Seite des Raumes. Die Luft in dem Verlies war feucht und muffig und der Boden so feucht, dass der Schmutz an Esmes Pantoffeln haften blieb. Bei jedem ihrer Schritte stieg ein so erdiger Geruch auf, dass sie das Gefühl bekam, im Freien zu sein. Natürlich wusste sie, dass dem nicht so war und dass die Wahrscheinlichkeit, dorthin flüchten zu können, überaus gering war. Und selbst wenn ihr die Flucht gelänge, wo sollte sie hin?
Panik übermannte sie und ließ bittere Galle in ihrer Kehle aufsteigen.
Wäre das hier doch nur eine Szene aus einem ihrer Abenteuerromane! In den Büchern erschien immer ein gut aussehender Held, der die bedauernswerte Frau aus ihrer Not rettete. Doch zu ihrem Leidwesen kannte Esme keinen solchen Helden, ob gut aussehend oder nicht, und daher war es sehr wahrscheinlich, dass sie an diesen Eisenschellen verrotten würde. Oder Schlimmeres.
Diesmal bemühte sie sich nicht, ihr Schaudern zu unterdrücken. Durfte man den schaurigen Einzelheiten mancher Bücher glauben, so stand zu befürchten, dass Schurken wie diese sie missbrauchen würden.
Waters löste Esmes Handfesseln und schob ihre rechte Hand in eine Eisenschelle an der Wand. Als er einen Stift in den Verschluss der Schelle steckte und sich das kalte Metall um ihren Arm schloss, versuchte sie, nach Waters zu treten, aber ihre Tritte richteten keinen großen Schaden an, auch nicht, als sie seine Schienbeine traf.
Er hatte Schwierigkeiten, die Eisenschelle an ihrem linken Arm zu schließen, und das nicht nur, weil Esme sich zur Wehr setzte, sondern vor allem, weil der Stift der Schelle stark verrostet war. Aber schließlich gelang es ihm, den Stift in den Verschluss hineinzutreiben, und der sah nicht so aus, als würde er irgendwann ganz von allein nachgeben.
Irgendetwas huschte über Esmes Füße, und sie trat um sich und schleuderte das ahnungslose Tierchen auf die beiden Männer zu. Ratte. Die Ironie dieses Gedankens entlockte ihr ein Lächeln.
Die beiden Männer hatten jeder eine Laterne dabei, in deren Licht Esme sie von ihrem Platz aus beobachten konnte. Über ihr befand sich ein großes Loch in der teilweise eingestürzten Decke, durch das sie den bewölkten Himmel sehen konnte. Doch bis auf schwachen Streifen Mondlicht, der den Weg in die Ruine fand, war sie selbst in völlige Dunkelheit gehüllt.
»Fang an der Wand an«, befahl Thatcher seinem Komplizen und deutete nach links. »Ab da zählst du vierzig Schritte ab. Ich beginne hier drüben.«
Die Männer hatten sich erst wenige Schritte von der jeweiligen Wand entfernt, als Esme ihr Tun unterbrach. »Sie werden schon bald einsehen müssen, dass Sie die falsche Frau entführt haben. Ich weiß weder etwas über einen Schlüssel noch habe ich eine Ahnung, was das hier eigentlich soll.«
Waters kehrte zu seinem Ausgangspunkt an der Wand zurück und begann erneut, seine Schritte zu zählen.
»Ich weiß nicht, wen Sie suchen, aber ich bin ganz bestimmt nicht die Richtige«, fuhr Esme fort. »Wahrscheinlich ist es Ihnen nicht bewusst, aber ich bin eine sehr wichtige Person, und sobald man mein Verschwinden entdeckt, wird ganz London nach mir suchen. Vermutlich hat man ohnehin schon längst die Polizei gerufen.«
Das hörte sich doch sehr gut an - theoretisch zumindest. Nur dass kein Wort davon der Wahrheit entsprach. Ihre Tante würde natürlich Esmes Abwesenheit bemerken, ebenso wie Mr. und Mrs. Craddock, die beiden Dienstboten, aber keiner von
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