Zauberhafte Versuchung
harmlosen Kästchens verbunden waren. Doch obwohl sie die potenziellen Gefahren dieses Kästchens kannte, drängte alles in ihr danach, einen kurzen Blick hineinzuwerfen ...
Ein Rumpeln erschütterte die Kutsche, und Esme richtete sich auf. Neugierig zog sie den geschlossenen Vorhang beiseite und sah, dass es schon Tag geworden war, auch wenn dieser sich trüb und regnerisch anließ. Die flache Küstenlandschaft war sanft ansteigenden Hügeln gewichen. Esme ließ den Vorhang wieder fallen und betrachtete den Mann ihr gegenüber.
Er schlief noch, und im Schlaf wirkte sein Gesicht weicher als zuvor. Ein mindestens zwei Tage alter Bart bedeckte sein Kinn und hätte ihm vielleicht ein hartes Aussehen verliehen, wären seine sinnlichen Lippen nicht gewesen. Esme beherrschte sich und unterdrückte ein Seufzen. Er war doch nur ein Mann! Ein gut aussehender, das gestand sie ihm ja gern zu, aber eben nur ein Mann. Sie betrachtete ihn nur deshalb so aufmerksam, weil er ihr das Leben gerettet hatte. Es hatte absolut nichts mit der Tatsache zu tun, dass sie sich nach männlicher Gesellschaft sehnte, nach einer Beziehung, wie alle ihre Freundinnen und ihre Schwester sie bereits gefunden hatten. In jedem Abenteuerroman kam das so vor - die Heldin hegte immer große romantische Vorstellungen von ihrem Helden. Es war eine ganz natürliche Reaktion, die überhaupt nichts zu bedeuten hatte.
Ohne dass er sie aus seinen braunen Augen wieder eindringlich musterte, griff Esme nach der zerschlissenen Tasche, die auf dem Wagensitz neben ihm lag. Wieder ging ein Rumpeln durch die Kutsche, und Esme hielt inne, um zu sehen, ob Mr. Grey erwachen würde. Doch er schlief ruhig weiter. Er schien einen tiefen Schlaf zu haben, was ihr zumindest im Augenblick sehr zugute kam.
Sie griff in die Tasche und ertastete eine schmale Kette - die Kette mit ihrem Anhänger. Sie hatte befürchtet, Thatcher könnte sie noch haben, doch anscheinend hatte er sie in derselben Tasche untergebracht wie auch das Kästchen. Sie steckte das Schmuckstück ein und zog das Kästchen heraus. Es sah jetzt nicht mehr so schäbig aus wie in der Nacht zuvor. Das Gold schimmerte im Morgenlicht, und voller Bewunderung betrachtete Esme die kunstvollen Gravuren.
Auf jeder Seite befanden sich Miniaturen von Göttern und Göttinnen. Zeus prangte natürlich oben auf dem Deckel, während auf den Seiten andere Gottheiten dargestellt waren. Esme sah sich eine nach der anderen genau an, bis sie fand, wonach sie suchte. Da! Eros und Aphrodite, beide ein Symbol für Liebe und für Leidenschaft. Genugtuung stieg in Esme auf. Ihre Theorie war richtig. Sie musste es sein. In diesem Kästchen lag Pandoras Zauber, der Schlüssel dazu, unwiderstehlich auf Männer zu wirken.
Einige Frauen, wie ihre Schwester, waren mit solchen Reizen schon geboren worden. Esme wusste, dass sie und Elena sich sehr unterschieden, nicht nur, was ihr Alter und Äußeres anging, sondern auch in ihrem Verhalten. Elena hatte immer Scharen von Verehrern um sich, die nur auf eine Chance warteten, mit ihr über das Parkett zu schweben, während Esme sich mit einem Platz am Rande des Ballsaals abzufinden hatte - bei den Mädchen, mit denen niemand tanzen wollte, und den älteren Damen.
Es war aber nicht nur ihre Schwester, die so völlig anders war. Die meisten Frauen schienen wenigstens über das bescheidene Talent zu verfügen, einen Mann verführen zu können, oder einen Raum zu betreten und Interesse zu erregen, denn allen Mädchen, die sie kannte, war es inzwischen gelungen, einen Ehemann zu ergattern. Sie selbst dagegen - nun, sie hatte es bisher nicht mal geschafft, einen frechen Blick auf sich zu ziehen. Andererseits jedoch war sie die Einzige gewesen, die es gewagt hatte, den Herzog von Devonshire in einem Salon voller Leute zu berichtigen. Sie hätte das nicht tun sollen - und hätte es wohl auch nicht getan, hätte er sich nicht mit derart falschen historischen Fakten aufgeplustert.
Jedenfalls war ihr kurzer Auftritt auf dem Heiratsmarkt danach beendet gewesen und zugleich damit jede Hoffnung, eine gute Partie zu machen. Und jetzt saß sie hier, siebenundzwanzig Jahre alt und ebenso wenig begehrt wie eh und je.
Welcher anderen Frau in England könnte es außer ihr noch gelingen, sich von zwei grässlichen Schurken entführen zu lassen und mit völlig unversehrter Tugend aus der Sache herauszukommen?
Natürlich wollte sie nicht, dass ihr mit Gewalt die Unschuld geraubt wurde. Zumindest nicht von diesen
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