Zauberhafte Versuchung
hielt sie den Schlüssel vor die passende Vertiefung des Kästchens, holte tief Luft und drückte ihn hinein. Sie hörte, wie innerhalb des Kästchens etwas nachgab, und atmete langsam wieder aus.
Dann hob sie mit einer schnellen Bewegung den Deckel an, kniff die Augen zu und wartete - auf einen Schwarm von Heuschrecken, Geschrei oder was auch immer. Aber nichts geschah.
Schließlich öffnete Esme die Augen und spähte in das Kästchen.
Nichts. Es war leer.
Esme wartete einen Moment und horchte in sich hinein, ob sie sich anders fühlte als sonst, ob vielleicht irgendeine unsichtbare Macht von ihr Besitz ergriffen hatte. Doch sie fühlte sich nicht anders als vorher.
Enttäuschung übermannte sie, und sie wollte den Deckel schon wieder schließen, als ihr am Boden der Schatulle etwas auffiel. Da er aussah, als ließe auch er sich öffnen, schob sie die Hand hinein. Etwas berührte ihre Finger, und Esme zog die Hand wieder zurück. Ein schimmernder goldener Armreif schloss sich um ihr Handgelenk! Er war schön. Der schmale, unverzierte Reif war schlicht und elegant.
Esme verspürte ein Kribbeln in ihrem Magen. War dieser Reif das Symbol für Pandoras Liebreiz? War es möglich, dass sich ein Mann für sie interessieren würde, allein deshalb, weil sie diesen Armreif trug? Würde sie endlich erfahren, wie es war, einen Raum zu betreten und die Blicke aller Männer auf sich zu ziehen?
Ein Kichern entrang sich Esme. Um diese Schatulle rankte sich zwar ein Mythos, aber deshalb war sie noch lange kein Zauberkasten. Allzu große Hoffnungen sollte sie sich also nicht machen. Vielleicht würde der Armreif Esme helfen, ihre weiblichen Reize besser zur Geltung zu bringen, doch ihre Chancen, eine unwiderstehliche Verführerin zu werden, waren nur gering.
Sie hob den Arm und ließ die Hand kreisen. Das Licht tanzte über das schmale Goldband, als etwas Esmes Aufmerksamkeit erregte. Als sie den Armreif ins Licht hielt, bemerkte sie, das er eine Gravur trug. Bei genauerem Hinsehen zeigte sich, das sie aus dem Altgriechischen stammte. Es war eine Sprache, die Esme zwar lesen konnte, aber nicht sehr gut beherrschte. Zum Glück für sie bestand der zu entziffernde Text aus nur einem Wort. Sie las es und dachte einen Moment darüber nach, nicht sicher, ob sie es richtig übersetzt hatte. Doch nach einem zweiten Blick war sie sich sicher. Das Wort war Wollust.
Esme wollte den Goldreif ablegen und zurück in die Schatulle legen, doch so sehr sie auch daran zog und zerrte, ließ er sich nicht über ihre Hand schieben.
Na großartig.
Esmes Herz begann zu rasen, das Atmen fiel ihr plötzlich schwer. Das hier änderte alles.
Das hier war kein Zauber.
Das hier war ein Fluch.
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6. Kapitel
M r. Grey! Mr. Grey.« Esme lief die breite Treppe hinunter und blieb erst stehen, als sie schon fast mit ihm zusammenstieß. »Oh, da sind Sie ja!«
Fielding nickte dem Butler zu, der sich daraufhin zurückzog. Hier in der hell erleuchteten Eingangshalle konnte Fielding sehen, dass Miss Worthingtons jetzt frisch gewaschenes Haar rötlich braun war. Auf den weichen Locken, die ihr Gesicht umrahmten, schimmerten goldene Glanzlichter. »Was gibt es denn so Dringendes, Miss Worthington, dass Sie meinen Namen schreiend durch das Haus rennen?«
Sie zog die Stirn kraus, und die zwei Fältchen, die dadurch auf ihrer makellosen glatten Haut entstanden, veränderten ihr Gesicht auf eine Weise, die Fielding ein Lächeln abrang.
»Ich habe nicht geschrien«, protestierte sie entrüstet und bemühte sich, ihre Haltung wiederzugewinnen. »Ich wollte Sie nur so schnell wie möglich finden, und dieses Haus hier«, sie machte eine ausholende Handbewegung, »ist nun mal sehr groß. Im ersten Stock konnte ich Sie nicht finden, und in der zweiten Etage habe ich mich fast verlaufen.«
»Nun, jetzt haben Sie mich ja gefunden. Ich habe Vorbereitungen für unsere Weiterreise getroffen, und wie ich sehe, haben Sie sich inzwischen frisch gemacht und etwas Passendes zum Anziehen gefunden. Auch wenn das Kleid zu lang für Sie ist.« Ganz abgesehen davon, wie eng es sich um ihre Hüften spannte. Esme Worthingtons Po war gut gepolstert. Das war ihm schon aufgefallen, als er sie in ihrem dünnen Nachthemd gesehen hatte, und auch dieser weite Rock und all die Unterkleider, die Frauen so trugen, konnten das nicht verbergen. Ein wenig verärgert, in welche Richtung seine Gedanken abschweiften,
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