Zauberhafte Versuchung
Intelligenz, während seine vollen Lippen ihm ein eher sinnliches Aussehen verliehen. Ja, dieser Fremde, der sie gerettet hatte, war ein wirklich attraktiver Mann.
Ob er sich seinen Lebensunterhalt damit verdiente, dass er Diebe aufspürte und ihnen abnahm, was auch immer an Artefakte sie gestohlen hatten? Um diese Objekte dann einem Museum oder einer anderen Institution zu stiften, an der sie sicher aufgehoben waren? Esme hatte von solchen Männern gehört, die gewöhnlich von Museen beauftragt wurden. Der Gedanke entlockte ihr ein Lächeln. Ihr Retter war ein ehrenwerter Mann, und sie war in Sicherheit.
»Wer waren diese Männer?«, fragte sie.
»Sagen Sie mir zuerst, wer Sie sind«, entgegnete er rundheraus.
Ehrenwert, wenn auch vielleicht ein bisschen schroff. »Esme Worthington«, antwortete sie.
»Und zu wem gehören Sie?«
»Pardon, aber ich gehöre zu niemandem.«
Er atmete tief ein und schloss die Augen. »Wer sind Ihre Eltern?«
»Meine Eltern leben nicht mehr.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und nickte bekräftigend. »Ich bin eine selbstständige Frau.«
Seine Augen wurden schmal. »Sie leben in London?« Er streckte seine langen Beine aus, wobei er Esme fast streifte. »Allein?«
Sie winkte ab. »Nicht ganz allein. Ich lebe mit meiner Tante zusammen, und wir beschäftigen ein Ehepaar, das uns den Haushalt führt.«
Er nickte gedankenvoll. »Und wie kommt es, dass Sie so viel über die Büchse der Pandora wissen?«
»Ich bin Wissenschaftlerin. Meine Kenntnisse darüber habe ich mir durch ausgedehnte Studien und Nachforschungen erworben.« Sie glaubte, den Anflug eines Lächelns auf seinem Gesicht zu entdecken, bevor er sich abwandte und hinaus in die Dunkelheit schaute. Viele Menschen - vor allem Männer - begegneten Frauen wie ihr mit Geringschätzung. Aber es kümmerte Esme absolut nicht, ob er ihre Weigerung, ihre Intelligenz zu unterdrücken, als unweiblich empfand.
»Haben Sie unsere Freunde da draußen in der Ruine angelogen? Mit Ihren Warnungen bezüglich der Gefahren des Kästchens, meine ich?«, fragte er.
Esme zuckte leicht die Schultern. »Es gibt viele Geschichten über die Büchse der Pandora und das, was sie enthalten könnte. Ich persönlich habe nie irgendeine dieser Theorien vertreten, dass sie Plagen und alle möglichen anderen Übel enthalten soll. Ich habe nur versucht, meinen Hals zu retten und zugleich diese beiden Schwachköpfe zu warnen.«
»Ich halte es für unwahrscheinlich, dass sie Ihre Warnungen beherzigt hätten, ganz gleich, wie ernst sie gemeint waren.« Er schwieg einen Moment, um dann hinzuzusetzen: »Ich hätte es auch nicht getan.«
Der Fremde lächelte sie an, und Esme stockte der Atem. Er sah viel jünger aus, wenn er nicht so finster dreinblickte. Aber dann senkte sie den Blick und schaute auf die zerschlissene Tasche, die neben ihm auf dem Sitz stand. Als Esme daran dachte, was sich darin befand, blieb ihr fast das Herz stehen,. »Darf ich es sehen?« Sie hatte lange genug gewartet.
Der Fremde sah Esme einen Moment lang an, dann griff er in die Tasche und zog das Kästchen heraus. »Zerbrechen Sie es nicht.«
»Das ist ein unschätzbar kostbares Relikt! Ich würde es ebenso wenig zerbrechen, wie ich den Rosetta-Stein zerschmettern würde.«
»Es muss unbeschädigt sein, wenn ich es abliefere«, sagte er.
»An wen?«, fragte sie und strich mit den Händen über das Kästchen.
»Das geht Sie nichts an.«
Sie verengte die Augen. »Dann nennen Sie mir wenigstens Ihren Namen und sagen mir, wer diese Männer waren.«
»Fielding Grey. Und diese Männer arbeiten für jemanden, den man den Raben nennt.«
Normalerweise hätte sie darauf gedrängt, mehr zu erfahren, aber im Moment konnte sie einfach nicht den Blick von dem Kästchen abwenden. Von dessen Feinheiten war nicht viel zu erkennen, da das Licht in der Kutsche nicht ausreichte. Aber sie erkannte die tiefer liegenden Schatten von Schnitzereien und spürte unter den Fingerspitzen das glatte, mit Einätzungen versehene Metall. Nun, da sie das Kästchen in Händen hielt, konnte Esme sehen, dass es aus Gold gefertigt war.
Eine prickelnde Erwartung durchlief sie. Hier war es, in ihren Händen, das Ziel, wonach sie ihr Leben lang gestrebt hatte.
Und sie durfte es nicht öffnen.
Sie hatte viele der Legenden gelesen und wusste, dass fast alle von der Neugier sprachen, die zu Pandoras Tod geführt hatte. Esme wusste von den Warnungen und Gefahren, die mit dem Öffnen dieses scheinbar
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