Zauberhafte Versuchung
eingerieben worden war. Der frische Duft belebte Esme, als sie die breite Marmortreppe hinunterging. Mr. Grey hatte gesagt, dieses Haus sei sein Familiensitz, doch die Bediensteten hatten sehr überrascht gewirkt, als er aus der Kutsche gestiegen war. Vielleicht waren sie aber auch über die schmutzbedeckte, nur notdürftig bekleidete Frau verwundert gewesen, die er mitgebracht hatte. Doch trotz dieser Überlegung wurde Esme das Gefühl nicht los, dass sie seinetwegen so bestürzt gewesen waren.
Als hätten sie ihn Jahre nicht gesehen und nicht mit seinem Besuch gerechnet.
Esme kam zu dem Schluss, dass Fielding Grey ein äußerst merkwürdiger Mann war. Sie hätte zu gern mehr über ihn erfahren, doch vorerst würde sie sich wohl damit begnügen müssen, sich in seinem Haus umzusehen. Wo würde er die Schatulle unterbringen, während er ein Bad nahm und sich entspannte? Esme begann mit der Tür, die dem hinteren Teil des Hauses am nächsten lag, und arbeitete sich langsam durch die unzähligen Korridore vor. Das Haus war makellos sauber und verfügte über die gleichen Räumlichkeiten wie andere Herrensitze auch: zwei Salons und eine Bibliothek, die Esme sich gern genauer angesehen hätte, da die Bücher ihr wie neue Freunde zuzuwinken schienen, aber sie zwang sich, weiterzugehen. Danach gelangte sie zu einem Musikzimmer, einem Billardraum und einem Arbeitszimmer.
Sie hatte die Tür zu dem Arbeitszimmer schon fast wieder geschlossen, als sie Thatchers verschlissene Tasche auf dem massiven Mahagonischreibtisch sah. Schnell schlüpfte Esme in das Zimmer, schaute sich noch einmal um, dass niemand sie beobachtete, und zog dann die Tür hinter sich zu. Mit einem raschen Blick vergewisserte sie sich davon, allein zu sein, und ging leise zum Schreibtisch. Und ehe sie sich versah, hatte sie auch schon auf dem großen Stuhl mit dem Lederpolster Platz genommen, der dahinter stand.
Der Stuhl war nicht nur äußerst unbequem, sondern auch so hoch, dass ihre Füße den Boden nicht erreichten. Esme ignorierte das Gefühl, sich wie ein kleines Mädchen, nicht wie eine erwachsene Frau vorzukommen, und zog behutsam die Schatulle aus der Tasche und stellte sie auf ihren Schoß.
Die Büchse der Pandora!
Esme unterdrückte ein Kichern, als sie sich einmal mehr wie ein kleines Kind mit einem neuen Spielzeug vorkam. Je öfter sie die Gravierungen betrachtete, desto schöner erschienen sie ihr. Sie strich mit den Fingerspitzen über das Gold und war wie berauscht von dem Gefühl, das sie dabei erfüllte. Dann hörte sie es - ein Wispern! Ein kaum vernehmbarer Laut, wie eine Stimme, deren Klang von einem leichten Wind herangetragen wurde. Erschrocken fuhr Esme herum, doch es war niemand außer ihr im Zimmer. Angestrengt lauschte sie der Stimme, aber es gelang ihr nicht, auch nur ein einziges der Worte zu verstehen.
»Hallo? Ist da jemand?«, fragte sie. Im Arbeitszimmer gab es nichts, wo jemand sich hätte verstecken können, und der einzige Zugang war die Tür, durch die sie hereingekommen war.
Esme schüttelte den Kopf, während sie das Kästchen erneut in Augenschein nahm. Und wieder hörte sie dieses Wispern. Es war ein Laut, der die Erfüllung geheimster Wünsche zu verheißen schien. Unvermittelt empfand Esme eine tiefe, süße Sehnsucht, in die sich ein Gefühl der Hoffnung und die Zuversicht auf künftiges Glück mischten. Obwohl die Worte noch immer unverständlich waren, hätte sie schwören können, ihren Namen gehört zu haben. Aber das war ausgeschlossen.
Sie strich mit den Fingerspitzen über das Kästchen, ertastete jede Gravur und merkte sich jede noch so kleine Einzelheit. Sie zuckte zusammen, als ihr etwas in den Finger stach. Als sie ihn zurückzog, sah sie einen Blutstropfen aus einem winzigen Schnitt hervorquellen. Wie seltsam, dass sie sich an dem glatten Gold geschnitten hatte. Esme nahm das Kästchen in die Hände und unterzog es einer noch genaueren Betrachtung. Schließlich bemerkte sie nahe der Einkerbung, die zu ihrem Schlüssel passte, einen leichten Abrieb.
Ihr Herz schlug schneller. Es war fast so, als wollte die Schatulle geöffnet werden. Und was konnte ein kleiner Blick hinein schon schaden? So viele Jahre hatte Esme sich gewünscht, sie in den Händen zu halten und zu öffnen, wie könnte sie sich die Erfüllung dieses Wunsches jetzt versagen?
Sie hatte die Gelegenheit, und sie hatte den Schlüssel.
Abermals blickte sie sich aufmerksam im Zimmer um, bevor sie ihre Halskette abnahm. Vorsichtig
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