Zauberhafte Versuchung
ihr unaufhörliches Gerede und ihr kindlich-unbedarftes Gehabe. Aus irgendeinem Grund gefiel Fielding dieser Gedanke.
»Wie geht es Ihrer Schwester?«, fragte Max.
Esme war sichtlich angespannt, und sie holte tief Luft, bevor sie antwortete. »Gut, nehme ich an.«
Nun wusste Fielding, dass da mehr war. Etwas, das Esme ungesagt gelassen hatte.
»Danke, Mylord, dass Sie so freundlich waren, uns Zuflucht zu gewähren. Ich hasse es, unhöflich zu sein, aber ich glaube, meine Tante braucht jetzt Ruhe.« Esme erhob sich und legte eine Hand auf Theas Schulter, was diese augenblicklich weckte. »Könnten Sie uns bitte den Weg zu unserem Zimmer zeigen lassen?«
»Aber selbstverständlich. Ich habe zwei nebeneinanderliegende Zimmer im Nordflügel herrichten lassen.« Max zog an einem Glockenstrang, und einen Moment darauf erschien sein Butler. »Bitte begleiten Sie die Damen zu ihren Zimmern.«
Fielding hielt Esme jedoch am Ellbogen zurück. »Sowie Sie sich eingerichtet haben, kommen Sie doch bitte wieder herunter, damit wir Ihre Bücher durchsehen können.«
Nachdem die Damen den Raum verlassen hatten, nickte Fielding Max zu. »Sie kennen also ihre Schwester?«
»Nicht im biblischen Sinne, Grey, falls es das ist, was Sie meinen. Aber ich erinnere mich, ihr gelegentlich begegnet zu sein. Ihr und dem besagten Ehemann.«
Esme hatte Fielding gesagt, sie habe keine Familie, abgesehen von ihrer Tante. Er mochte es nicht, belogen zu werden, ganz gleich, aus welchem Grund. Trotzdem fühlte er sich genötigt, den Marquis zu fragen: »Was wissen Sie über ihn?«
»Raymond Griffin ist der Earl of Weatherby«, erklärte Max. »Ich kann nicht behaupten, dass wir jemals mehr als einen Gruß gewechselt hätten, aber ich habe den Eindruck, dass der Mann ein Schuft ist.«
Fielding erhob sich von dem unbequemen kleinen Sessel. »›Schuft‹ deckt sehr viele Sünden ab«, erwiderte er lakonisch. Zweifelsohne gab es eine Menge Leute in London, die exakt dieses Wort auch benutzen würden, um ihn zu beschreiben. Unwillkürlich umfasste er die Rücklehne des zierlichen Fauteuils.
»Gerüchte«, sagte Max, der ein wenig von seiner sonst so kühlen Fassade abgelegt hatte. »Viel kann ich dazu nicht sagen, da ich Gesellschaftsskandalen nur selten Aufmerksamkeit schenke. Doch ich erinnere mich, gehört zu haben, dass Elenas jüngere Schwester einmal ziemlich großes Aufsehen erregt hat. Und dann war sie plötzlich aus London verschwunden, und es hieß, sie sei einer Krankheit wegen auf einen Landsitz der Familie geschickt worden.«
»Wie praktisch für die Weatherbys«, bemerkte Fielding spöttisch. »Vielleicht sollte ich ihnen einen Besuch abstatten und ihnen mitteilen, dass Esme sich in Sicherheit befindet.« Und ihnen klarmachen, dass er nicht Teil irgendeines Skandals war, der es erforderte, dass er eine ehrbare Frau aus Esme machte.
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9. Kapitel
E sme hatte nicht über ihre Schwester reden wollen. Dabei kam nie etwas Gutes heraus. Mit der Absicht, ihre Sachen auszupacken, klappte sie den Deckel ihrer Reisetruhe auf und stellte fest, dass jemand das für sie bereits getan hatte. Im Schrank hingen die Kleider, die Thea für sie eingepackt hatte, und die anderen persönlichen Dinge wie Haarbürste und Kämme und die wenigen Schmuckstücke, die sie besaß, lagen sorgsam angeordnet auf der Frisierkommode.
Während sie zur Tür ging, seufzte Esme resigniert. Sie hatte versucht, die Beziehung zu ihrer Schwester fortzusetzen, aber Elena war an ihren Besuchen nicht interessiert gewesen. Esme hatte vor Elenas Tür gestanden und war von einem Dienstboten aufgefordert worden, wieder zu gehen. Trotz all ihrer aufrichtigen Bemühungen war die Beziehung zu ihrer Schwester abgebrochen - von der obligatorischen Karte zu Weihnachten einmal abgesehen.
Aber auch darüber hatte Esme nichts sagen wollen. Ein Leben im Verborgenen zu führen war nicht schwer, wenn man zu Hause blieb und höchstens vor die Tür ging, um eine Bibliothek oder einen der vielen kleinen, unbekannten Buchläden aufzusuchen. Zumal niemand wusste, dass Esme sich noch immer in London aufhielt. Soweit sie wusste, erzählte Elena noch immer jedem, der danach fragte, dass ihre Schwester die Abgeschiedenheit des Landlebens der Stadt vorziehe.
Leise stieg Esme die breite Treppe in die Eingangshalle hinunter. Im Hause des Marquis konnte sie leider nicht davon ausgehen, diese Anonymität auch weiterhin
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