Zauberkusse
und sieht mich mit seinen leuchtendblauen Augen forschend an. Und ich sitze hier in meiner filzigen, ausgebeulten Fleecehose, einem weißen Feinripp-Unterhemd und der Uralt-Strickjacke. Vollgerotzte Haushaltstücher übersäen den Fußboden und auch sonst sieht es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen.
»Woher kommt denn bloß dieser Gestank?«, hakt Frau Saalberg weiter nach. Erschrocken sehe ich auf und rücke ein Stück von Michael Lange weg.
»Äh, das könnte ich sein«, murmele ich peinlich berührt und schnüffele unauffällig an meiner Achselhöhle herum. Puh, ein Pumakäfig ist nichts dagegen!
»Nein, das sind Sie nicht«, beruhigt mich Herr Lange und streichelt immer noch an meinem Arm herum. Verwundert sehe ich auf die große, gebräunte Männerhand, die über meine Haut streicht. Dann sehe ich zu ihm auf.
»Was zum Teufel machen Sie hier eigentlich? Und sagen Sie nicht, Drogenrazzia«, ergänze ich noch mit Galgenhumor, woraufhin er vehement den Kopf schüttelt.
»Aber nein. Ihre Nachbarin Frau Saalfeld …«
»Saalberg«, erklingt der Ruf aus Richtung Flur, wohin sich meine Nachbarin verzogen hat.
»Verzeihung, also, Frau Saalberg hat sich Sorgen gemacht. Sie hat erzählt, dass Sie seit über einer Woche die Wohnung nicht mehr verlassen haben und dass es«, er macht eine kleine Pause, »nun ja, Probleme in Ihrer Beziehung gibt. Zusammen mit dem Geruch hat sie anscheinend befürchtet …«
»… dass ich mir etwas angetan habe und hier vor mich hingammele«, vollende ich den Satz für ihn und er nickt.
»Und wenn ich ehrlich bin, besonders weit entfernt davon sehen Sie nicht aus«, sagt er und lächelt mich entschuldigend an.
»Sie waren auch schon mal charmanter«, gebe ich zurück, da fällt mein Blick auf mein von Flecken übersätes Unterhemd. Waren es Annas negative Gedanken, war es meine eigene Nachlässigkeit, ich weiß es nicht genau. Ich weiß aber, dass ich aussehe wie ein Ferkel. »Ich gehe mich mal eben frisch machen, wenn Sie nichts dagegen haben«, sage ich so würdevoll wie möglich und erhebe mich. Im Flur pralle ich beinahe mit Frau Saalberg zusammen, die einen bestialisch stinkenden Pizzakarton vor sich herträgt.
»Hier haben wir den Übeltäter«, sagt sie befriedigt und lüftet den Deckel. Ein dicker, grüner Schimmelteppich überzieht eine große Pizza Bolognese, von der nur ein schmales Stück fehlt. Die Gestankswolke, die mir entgegenschlägt, raubt mir fast den Atem und löst auf der Stelle einen Würgereflex aus. Die Hand vor den Mund gepresst, flüchte ich mit zwei langen Schritten ins Bad, knalle die Tür hinter mir zu und falle vor der Toilettenschüssel auf die Knie. Röchelnd würge ich ein wenig Galle hoch, aber mehr ist aus meinem Magen, der seit Tagen keine feste Nahrung mehr gesehen hat, nicht herauszuholen. Ich versuche, das Bild der schimmeligen Pizza aus meinem Kopf zu verbannen, die ich mir am Tag nach Gregors Abgang in die Wohnung bestellt habe. Einunddreißig Jahre musste ich alt werden, um wahren Liebeskummer kennenzulernen. Und um zu erfahren, dass in diesem Zustand an Essen nicht zu denken ist. Mühsam ziehe ich mich am Waschbeckenrand hoch und sehe meinem Spiegelbild in die Augen. Der Anblick ist nicht viel besser als der der Pizza. Mir schießt das Blut in den Kopf, als mir klar wird, dass da draußen in meinem Flur zwei Menschen herumstehen, die mich in diesem Zustand gesehen haben. Die Haare kleben mir in fettigen Strähnen am Kopf, die unnatürlich großen, glasigen Augen liegen in tiefen Höhlen, die Gesichtshaut ist merkwürdig fahl und von fiesen, kleinen Unreinheiten übersät. Ungläubig schaue ich an meinem Körper herunter, um den die Klamotten herumschlackern. Ich verrenke mir den Hals, um meine Kehrseite betrachten zu können und muss feststellen: Mein Hintern ist weg. Einfach verschwunden. Ungläubig fasse ich mit beiden Armen um mich herum und lege die Handflächen auf das, was von meinen ehemals runden Pobacken übrig geblieben ist. Nämlich fast nichts. Der Rücken geht nahezu übergangslos in die Oberschenkel über.
»Ist alles okay?«, ertönt von draußen Herrn Langes Stimme. Ob alles okay ist? Das würde ich so nicht sagen. Ich habe mir den Hintern weggehungert. Und, wenn wir schon mal dabei sind, die Brüste gleich mit. Ich bin nichts mehr als ein kummervoller Strich in der Landschaft. Auf einmal bin ich froh, dass Gregor mich nicht so sehen muss. Einen kurzen Moment spiele ich mit dem Gedanken, mich einigermaßen
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