Zauberschiffe 01 - Der Ring der Händler
brachte ihr Erwachen ein Leben näher.
Jetzt fehlte nur noch der Tod ihres Vaters, um dieses Erwachen zu bewerkstelligen. Wie immer, wenn sie darüber nachdachte, überkam Althea ein Tumult widerstreitender Gefühle. Der Gedanke, dass ihr Vater sterben musste, erfüllte sie mit Furcht und Schrecken. Es würde sie am Boden zerstören, wenn er sie verließ. Und wenn er starb, bevor sie ihre Volljährigkeit erreicht hatte, und die Vormundschaft über sie an ihre Mutter und Kyle fiel… Sie schob den Gedanken daran beiseite und klopfte mit den Knöcheln gegen das Holz der Viviace , um das Unglück abzuwenden, das solche schlimmen Gedanken hervorriefen.
Trotzdem konnte sie nicht abstreiten, dass sie das Erwachen der Viviace sehnlichst erwartete. Wie viele Stunden hatte sie schon ausgestreckt auf dem Bugspriet verbracht, so dicht an der Galionsfigur wie möglich, während sie durch die Meere pflügten, und hatte die geschnitzten Lider angestarrt, die die Augen der Viviace bedeckten. Sie bestand nicht einfach aus Holz und Farbe wie die anderen Galionsfiguren. Sie war aus Hexenholz. Sie war zwar im Moment noch angemalt, zugegeben, aber wenn ihr Vater an Bord des Schiffes starb, dann würden die bemalten Locken der Galionsfigur nicht mehr vergoldet, sondern von einem strahlenden Blond sein, und ihre ausgeprägten Wangenknochen würden ihr Rot verlieren und in einem lebendigen Rosa leuchten. Sie würde grüne Augen haben.
Das wusste Althea. Natürlich sagten alle, dass niemand genau wissen konnte, welche Augenfarbe ein Zauberschiff haben würde, bis sich die Augen nach dem Tod von drei Generationen von Eigentümern öffneten. Aber Althea wusste es. Die Viviace würde Augen haben, so grün wie die Farbe des Seetangs. Selbst jetzt, als Althea an diese großen, smaragdgrünen Augen dachte, musste sie lächeln.
Doch das Lächeln verging ihr, als sie sich Kyles Worte ins Gedächtnis rief. Es war offensichtlich, was er vorhatte. Er wollte sie von dem Schiff entfernen und statt ihrer einen seiner Söhne an Bord bringen. Und wenn ihr Vater tatsächlich starb, würde Kyle versuchen, sich das Kommando über die Viviace zu erschleichen und seinen Jungen an Bord zu halten, als einen symbolischen Vestrit, um das Schiff glücklich zu machen. Aber das konnte nur eine leere Drohung sein. Keiner der Jungen war dafür geeignet. Der eine war noch viel zu jung, und der andere war zu den Priestern gegangen. Althea hatte nichts gegen ihre Neffen, aber selbst wenn Seiden nicht zu jung gewesen wäre, um an Bord eines Schiffes zu leben, hatte er doch die Seele eines Bauern. Und was Wintrow anging: Keffria hatte ihn schon vor Jahren den Priestern übergeben. Wintrow interessierte sich nicht für die Viviace , und er wusste nichts über Schiffe. Ihre Schwester Keffria musste das doch einsehen. Und es war ihm bestimmt, Priester zu werden. Kyle war zwar niemals sonderlich begeistert darüber gewesen, aber als Althea den Jungen das letzte Mal gesehen hatte, war ihr klar geworden, dass er ein guter Priester werden würde. Klein und spindeldürr, immer ein geistesabwesender Blick, ein vages Lächeln und Gedanken, die nur um Sa kreisten. Das war Wintrow.
Nicht, dass es Kyle kümmerte, wie es seinem Sohn ging, oder er sich etwa dagegen gesträubt hätte, seinen ältesten Sohn Sa zu weihen. Die Kinder, die er Keffria gemacht hatte, waren nur Werkzeuge für ihn, Blut, das er jetzt beanspruchte, um die Kontrolle des Zauberschiffs an sich zu reißen. Nun, er hatte sein Blatt ein bisschen zu früh aufgedeckt. Wenn sie wieder in den Hafen einliefen, würde sie dafür sorgen, dass ihr Vater genau erfuhr, was Kyle geplant und wie schlecht er sie behandelt hatte. Vielleicht würde ihr Vater dann seine Entscheidung überdenken, dass Althea zu jung war, um ein Schiff zu führen.
Sollte Kyle sich doch selbst eine Nussschale suchen, mit der er über die Meere schunkeln konnte, und die Viviace wieder in Altheas Hände geben, wo sie sicher war und geachtet wurde.
Althea war davon überzeugt, dass sie durch die Handflächen eine Reaktion des Schiffes spürte. Die Viviace gehörte nur ihr, ganz gleich, welche Pläne Kyle schmiedete. Er würde sie niemals bekommen.
Sie wälzte sich in ihrer Koje herum. Sie war ihr entwachsen.
Eigentlich müsste sie den Schiffszimmerer kommen lassen, damit dieser den Raum neu gestaltete. Wenn sie ihre Koje auf das Schott stellte, unter das Bullauge, dann könnte sie eine Handlänge Platz gewinnen. Das war nicht viel, aber selbst dieses
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