Zauberschiffe 02 - Viviaces Erwachen
Komplimente!«, erwiderte er barsch. »Sollen sie mich davon ablenken, dass du meine Frage nicht beantwortet hast?«
Er ließ ihre Hand los.
»Nein. Ganz und gar nicht. Ich bin… Amber. Ich schnitze Holz. Ich mache Schmuck daraus, Perlen und Ornamente, Kämme und Ringe. Manchmal auch größere Stücke wie Schüsseln und Trinkbecher. Sogar Stühle und Wiegen. Aber von Letzteren nicht so viele. Mein Talent kommt stärker bei kleineren Stücken zur Geltung. Darf ich dein Gesicht berühren?«
Die Frage kam so schnell, dass er nickte, bevor er darüber nachdachte. »Warum?«, fragte er zu spät.
Er fühlte, dass sie näher trat. Der Duft ihres warmen Körpers vermischte sich mit der Kälte des Regens. Er fühlte, wie ihre Finger über den Rand seines Bartes strichen. Es war eine federleichte Berührung, und dennoch erschauderte er. Seine Reaktion war zu menschlich. Hätte er zurückzucken können, hätte er es getan.
»Ich kann dich nicht erreichen. Könntest du… Würdest du mich hochheben?«
Das ungeheure Vertrauen, das sie ihm entgegenbrachte, ließ ihn vergessen, dass sie die erste Frage noch nicht beantwortet hatte.
»Ich könnte dich mit meinen Fingern zerquetschen«, erinnerte er sie.
»Aber das wirst du nicht tun«, erwiderte sie zuversichtlich.
»Bitte.«
Die Dringlichkeit ihres Flehens erschreckte ihn. »Warum glaubst du das?«, wollte er wissen. »Ich habe schon getötet, weißt du? Ganze Mannschaften! Ganz Bingtown weiß das. Wer bist du, dass du mich nicht fürchtest?«
Statt einer Antwort legte sie ihre nackte, nasse Hand auf seinen Arm. Die Wärme strömte durch seine Maserung und durchzuckte ihn, wie die Hitze einer Hand auf dem Schenkel eines Mannes seinen ganzen Körper erregen kann. Es geht in beide Richtungen, erkannte er plötzlich. Der Strom fließt in beide Richtungen. Er war so in ihrer Haut, wie sie in seinem Holz war. Ihre Menschlichkeit sang in ihm. Er wälzte sich in ihren Sinnen. Der Regen hatte ihr Haar durchnässt, und ihre Kleidung klebte an ihrem Körper. Ihre Haut war kalt, aber ihr Körper wärmte sie von innen. Er fühlte die Luft in ihren Lungen wie den Wind, der einst seine Segel gebläht hatte, fühlte das Rauschen ihres Blutes wie das Seewasser, das einst an seinem Rumpf vorbeigeströmt war.
»Du bist viel mehr als Holz!«, schrie sie laut. Ihre Stimme verriet ihre Entdeckung, und er erlebte das Entsetzen einer Täuschung. Sie war in ihm, sie sah viel zuviel, wusste zuviel.
Dinge, die er lange unterdrückt hatte, wurden durch sie freigesetzt. Er wollte sie nicht so hart zurückstoßen, aber sie schrie auf, als sie auf den nassen Sand und den felsigen Strand prallte. Er hörte, wie sie nach Luft schnappte, während der Regen auf ihn herunterprasselte.
»Bist du verletzt?«, fragte er nach einer Weile mürrisch.
Allmählich beruhigte er sich wieder.
»Nein«, antwortete sie ruhig. Und bevor er sich entschuldigen konnte, sprach sie weiter: »Es tut mir leid. Trotz allem dachte ich, dass du… bloßes Holz wärst. Ich habe eine Gabe für Holz.
Wenn ich es berühre, kenne ich es, weiß ich, wie seine Maserung verläuft, wo es fein verläuft oder grob… Ich dachte, ich könnte dich berühren und herausfinden, wie deine Augen gewesen waren. Ich habe dich berührt und dachte, ich finde nur Holz. Ich hätte nicht so… Vergib mir. Bitte.«
»Es ist schon gut«, erwiderte er ernst. »Ich wollte dich nicht so abrupt wegstoßen. Und ich wollte auch nicht, dass du fällst.«
»Nein, es war mein eigener Fehler. Und du hast recht daran getan, mich wegzustoßen. Ich…«
Sie hielt erneut inne, und eine Weile hörte man nur das Geräusch des Regens. Das Schlagen der Wellen wurde lauter. Die Flut kam näher. »Bitte, können wir noch mal von vorn anfangen?«, fragte sie plötzlich.
»Wenn du willst«, antwortete er verlegen. Diese Frau… Er verstand diese Frau überhaupt nicht. Sie hatte ihm so schnell vertraut und weckte jetzt so rasch freundschaftliche Gefühle in ihm. Er war nicht daran gewöhnt, dass so etwas passierte, ganz zu schweigen, wie überstürzt es geschah! Es ängstigte ihn. Aber noch furchteinflößender war der Gedanke, dass sie weggehen und nicht mehr wiederkommen würde. Er riss sich zusammen und sammelte sein ganzes Vertrauen. »Möchtest du gern hereinkommen, heraus aus dem Regen?«, fragte er einladend. »Ich habe zwar eine schreckliche Schlagseite, und es ist drinnen nicht wärmer als draußen, aber wenigstens stehst du nicht mehr im
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