Zauberschiffe 04 - Die Stunde des Piraten
Dunkelheit fühlte sie mehr, als sie sah, wie Keffria nickte. »Hilf mir mit Selden«, bat sie.
»Selden.« Ronica legte ihre ganze Autorität in ihre Stimme. »Mama und ich können dich nicht tragen. Dafür bist du schon ein zu großer Junge. Erinnerst du dich, wie du uns geholfen hast, die Eimer zu schleppen, als die Schiffe gekommen sind? Du warst damals sehr tapfer. Und jetzt musst du wieder tapfer sein. Komm. Nimm meine Hand und steh auf.«
Zunächst reagierte er nicht. Trotzdem nahm sie seine Hand und zog. »Komm, Selden. Steh auf. Nimm die gesunde Hand von Mama. Du bist stark. Du kannst uns helfen, diesen Hügel hinaufzuklettern.«
Sehr langsam richtete das Kind sich auf. Die beiden Frauen nahmen seine Hände und zogen ihn zwischen sich den Hügel hinauf. Keffria drückte ihre verletzte Hand gegen ihre Brust. Keiner von ihnen sprach viel, außer einige ermutigende Worte an den Jungen. Ein paar Mal riefen sie nach Malta. Niemand antwortete. Der Lärm, den sie machten, hatte die Vögel verstummen lassen. Die einzigen Geräusche, die sie wahrnahmen, waren die, die sie selbst erzeugten.
Die Kutsche lag auf der Seite. Die Bäume standen hier nicht so dicht beieinander, und das Licht der Steine reichte bis zum Boden. Konica sah das Ende ihrer Welt in Schwarz und Weiß getaucht. Ein totes Pferd hing immer noch in seinem Geschirr. Auf der Strecke zwischen der Kutsche und dem Hügelkamm waren die Zweige abgebrochen und geknickt.
Sie suchten das ganze Gebiet um die Kutsche herum ab. Keiner von ihnen sprach dabei aus, was sie taten: Sie suchten den Boden nach Maltas Leichnam ab, tasteten in der Dunkelheit herum. Nach einer Weile sagte Keffria: »Sie ist vielleicht noch in der Kutsche eingeschlossen.«
Die Karosse lag auf der Seite an dem steilen Abhang, mit dem Dach hügelabwärts. Die Stiefel des Kutschers ragten darunter hervor. Ronica und Keffria bemerkten es beide, kommentierten es jedoch mit keinem Wort. Selden hatte heute Nacht schon genug gesehen. Den Toten musste man ihm nicht auch noch zeigen. Und er sollte auch nicht darüber nachdenken, ob sich Maltas Leichnam ebenfalls unter der Kutsche befand. Ronica vermutete, dass die Kutsche sich wenigstens zweimal überschlagen hatte, bevor sie endlich zur Ruhe gekommen war. Und auch jetzt wirkte ihre Lage noch nicht sonderlich stabil. »Sei vorsichtig«, ermahnte sie ihre Tochter leise. »Sie rollt vielleicht noch weiter den Hügel hinunter.«
»Ich bin vorsichtig«, versprach Keffria. Dann kletterte sie langsam am Untergestell der Kutsche hoch. Als ihre verletzte Hand abrutschte, schrie sie einmal leise auf. Sie lag auf der Seite der Kutsche und spähte ins Innere. »Ich kann nichts sehen«, rief sie. »Ich muss hineinklettern.«
Ronica hörte, wie sie sich mit der Tür abmühte, bis sie sie endlich öffnen konnte. Dann blieb sie einen Augenblick auf dem Rand sitzen, bevor sie sich ins Innere des Gefährts gleiten ließ. Ronica hörte ihren Entsetzensschrei. »Ich bin über sie gestolpert!«, rief sie. »Oh, mein Baby, mein Baby!«
Die Stille schien endlos zu dauern, bis Keffrias Schluchzen sie endlich durchbrach. »Mutter, sie atmet! Sie lebt! Malta lebt!«
10. Beweise
Der Morgen dämmerte schon fast, als Etta leise in Kennits Kajüte schlüpfte. Sie glaubte, dass er schlief.
Aber Kennit schlief nicht. Als sie zum Schiff zurückgekehrt waren, hatte Etta ihm beim Baden und Umziehen geholfen. Dann hatte er sie aus der Kajüte gescheucht und seine Pläne für Divvytown auf seinem Kartentisch ausgebreitet. Er kramte sein Lineal, seinen Zirkel und Stifte hervor und betrachtete stirnrunzelnd seine bisherigen Bemühungen. Als er die Pläne gezeichnet hatte, hatte er aus dem Gedächtnis arbeiten müssen. Und während er heute über die in Frage kommenden Gebiete humpelte, war ihm sofort klar geworden, dass einige seiner Vorstellungen nicht realisierbar waren. Er breitete ein neues Pergament aus und begann von vorn.
Diese Art Arbeit hatte Kennit immer geliebt. Es war fast, als erschaffe er seine eigene Welt, eine saubere und ordentliche Welt, wo die Dinge Sinn ergaben und zu ihrem Besten angeordnet waren. Diese Welt erinnerte ihn an seine frühe Kindheit, als er auf dem Boden neben dem Schreibtisch seines Vaters spielte. In dem ersten Heim, an das er sich erinnerte, war der Boden die blanke Erde gewesen. Wenn sein Vater nüchtern war, arbeitete er an den Plänen für die Schüsselinsel. Er zeichnete nicht nur das große Herrenhaus. Er malte mit Tinte auch die
Weitere Kostenlose Bücher