Zauberschiffe 04 - Die Stunde des Piraten
vollständig hergestellt. Ihr seht nicht mehr alles doppelt?«
»Meine Sehkraft ist in Ordnung«, versicherte Malta ihr.
»Ihr esst gut und vertragt das Essen auch?«
»Ja.«
»Eure Benommenheit ist ebenfalls verschwunden?«
»Sie überkommt mich nur, wenn ich mich plötzlich bewege.«
»Dann solltet Ihr aufstehen und herumlaufen.« Die Frau räusperte sich. Es klang schleimig. Malta versuchte, nicht zusammenzuzucken. Die Heilerin schnaubte laut, als ringe sie nach Luft, und fuhr dann fort: »Ihr habt Euch keine Knochen gebrochen, soweit wir das sagen können. Ihr müsst aufstehen und herumlaufen, damit Eure Glieder sich wieder daran erinnern, wie sie funktionieren. Wenn Ihr zu lange liegen bleibt, vergisst Euer Körper das. Ihr könntet Euch vielleicht selbst verkrüppeln.«
Eine gereizte Antwort würde die Hartnäckigkeit der Frau nur noch mehr verstärken. »Vielleicht bin ich heute Nachmittag dazu in der Lage.«
»Schon früher. Ich werde Euch jemanden schicken, der mit Euch geht. Das ist es, was Ihr braucht, um gesund zu werden. Ich habe meinen Teil getan. Jetzt müsst Ihr den Euren leisten.«
»Danke«, erwiderte Malta distanziert. Die Heilerin war für ihren Beruf ausgesprochen wenig mitfühlend. Malta wollte sich schlafend stellen, wenn die Assistentin der Heilerin kam. Dann würde sie wohl kaum jemand stören. Das war bisher der einzige Vorteil ihrer Verletzung gewesen. Sie schlief, ohne von ihren Träumen verfolgt zu werden. Der Schlaf war wieder eine Zuflucht. Im Schlaf konnte sie vergessen, dass Reyn ihr misstraut hatte, die Gefangenschaft oder den Tod ihres Vaters beiseite schieben, sogar den Gestank des brennenden Bingtown hinter sich lassen. Sie vergaß, dass sie und ihre Familie jetzt verarmt waren und sie Teil eines Handels war, der lange vor ihrer Geburt abgeschlossen worden war. Sie konnte sich im Schlaf vor ihren Fehlschlägen verstecken.
Malta lauschte der Heilerin, die sich schlurfend zurückzog, und versuchte einzuschlafen, aber ihr innerer Frieden war zu gründlich ruiniert worden. Zuerst war ihre Mutter heute Morgen gekommen, voller Trauer und Sorgen. Aber sie benahm sich, als wäre Malta ihre einzige Kümmernis. Dann Selden und die Heilerin. An Schlaf war nicht mehr zu denken.
Sie gab nach, öffnete die Augen und starrte an die gewölbte Decke. Das Weidengeflecht erinnerte sie an ein Körbchen. Trehaug war ganz anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Sie hatte erwartet, dass der Khuprus-Clan ein gewaltiges Anwesen aus Marmor in einer Stadt voller schöner Häuser und breiter Alleen besaß. Sie war auf geschmückte Räume mit dunklem Holz und Steinen gefasst gewesen, auf luftige Ballsäle und lange Galerien. Stattdessen war die Stadt genau so, wie Selden sie beschrieben hatte: eine Baumhausstadt. Luftige kleine Kammern thronten auf den oberen Zweigen großer Bäume, die dicht am Flussufer standen, und waren durch Hängebrücken verbunden. Alles in den sonnigen oberen Höhen der Bäume war so leicht gebaut wie möglich. Einige der kleineren Kammern waren kaum mehr als Gebilde aus Weidengeflecht, die wie Vogelkäfige schwankten, wenn der Wind auffrischte. Kinder schliefen in Hängematten und saßen in Schlingschaukeln. Alles, was aus Gras oder Zweigen angefertigt werden konnte, bestand auch daraus. Die oberen Bereiche der Stadt waren beinahe körperlos, ein Geist jener uralten Stadt, die das Regenwildvolk ausplünderte.
Stieg man jedoch in die Tiefen von Trehaug hinab, änderte sich das Bild. Jedenfalls hatte Selden ihr das erzählt. Malta hatte ihr Gemach noch nicht einmal verlassen, seit sie aufgewacht war. Sonnige Kammern wie die ihre lagen weit oben in den Wipfeln der Bäume, während näher an den Stämmen der Bäume Werkstätten, Tavernen, Lager- und Kaufhäuser im ewigen Zwielicht angebracht waren. Dazwischen befanden sich die größeren Räume der Regenwildnishändler, die Esszimmer, Küchen und Versammlungssäle. Sie waren aus soliden Brettern und Bohlen gebaut worden. Keffria hatte ihr gesagt, dass es sehr prunkvolle Räume waren. Einige überspannten sogar mehrere Bäume und standen in ihrer Vornehmheit selbst dem erlesensten Bingtowner Heim in nichts nach. Hier zeigten die Regenwildhändler ihren Reichtum, und zwar nicht nur die uralten Schätze der versunkenen Stadt, sondern auch die Luxusgüter, die ihr exotischer Handel ihnen eingebracht hatte. Keffria hatte versucht, Malta mit ihren Schilderungen von all der Kunst und Schönheit aus ihrer Kammer zu locken. Aber
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