Zauberschiffe 04 - Die Stunde des Piraten
Frau sehen, die einen Mann da trifft, wo er am verletzlichsten ist. Das geht nicht. Du musst als Maat anerkannt werden, der einem aufmüpfigen Matrosen eine Lektion erteilt.«
»Irgendwelche Vorschläge?«, fragte Althea müde. Es ärgerte sie, dass Amber so schnell zum Kern des Problems gekommen war.
»Beweise, dass du besser bist als er, dass du es verdienst, Zweiter Maat zu sein. Das ist nämlich sein eigentliches Problem, weißt du. Er glaubt, dass er in deine Position aufrücken würde, wenn du zur Seite treten und einfache Passagierin werden würdest.«
»Das würde er vermutlich auch«, räumte Althea ein. »Er ist ein fähiger Seemann und hat ein natürliches Talent zum Führen. Er wäre ein guter Zweiter Maat, möglicherweise sogar ein ganz guter Erster.«
»Nun, da hast du deine andere Option. Mach den Weg frei und überlass ihm die Stelle.«
»Nein, das ist meine Position«, knurrte Althea.
»Dann verteidige sie auch«, erwiderte Amber. »Aber da du schon oben bist, musst du fair kämpfen. Du musst ihn vorführen. Warte auf den richtigen Moment, halt die Augen offen und ergreife dann die Gelegenheit. Es muss eine echte Chance sein. Der Rest der Mannschaft darf keinerlei Zweifel haben. Beweise, dass du ein besserer Seemann bist als er, dass du verdienst, was du bekommen hast.« Althea hörte, wie Amber in ihrer Koje hin und her rutschte.
Althea lag bewegungslos da und dachte beunruhigt nach. War sie denn wirklich besser als Haff? Verdiente sie es, sein Maat zu sein? Warum sollte er nicht statt ihrer diese Position einnehmen? Althea schloss die Augen. Darüber musste sie erst einmal schlafen.
Mit einem erstickten Fluch trat Amber gegen das Fußende ihres Bettes und drehte das Kissen herum. Sie machte es sich gemütlich, nur um sich im nächsten Augenblick wieder unruhig hin und her zu wälzen.
»Ich habe deine Gabe leider nicht. Warum sagst du mir nicht einfach, was dich bedrückt?«, rief Althea leise.
»Du würdest es nicht verstehen«, klagte Amber. »Niemand kann das verstehen.«
»Warum versuchst du es nicht einfach?«, erwiderte Althea herausfordernd.
Amber holte tief Luft und stieß dann einen Seufzer aus. »Ich frage mich, warum du kein neunfingriger Sklavenjunge bist. Ich frage mich, wie Paragon sowohl ein verängstigter Junge als auch ein grausamer Mann sein kann. Ich frage mich, ob ich überhaupt hier auf dem Schiff sein sollte. Vielleicht hätte ich in Bingtown bleiben sollen, um auf Malta aufzupassen.«
»Malta?«, fragte Althea ungläubig. »Was hat Malta denn damit zu tun?«
»Genau darauf«, antwortete Amber gereizt, »hätte ich auch sehr gern eine Antwort.«
»Irgendwas stimmt nicht, Sir! Ich meine mit Divvytown!«
Gankis stand in Kennits Tür. Der alte Pirat wirkte so verwirrt, wie Kennit ihn noch nie gesehen hatte. Er hatte seine Mütze abgenommen und knetete sie jetzt zwischen den Fingern. Kennit überkam plötzlich eine Vorahnung, die ihm beinahe den Magen umdrehte. Aber er ließ sich äußerlich nichts anmerken.
Fragend hob er eine Braue. »Gankis, mit Divvytown stimmt eine ganze Menge nicht. Welcher Punkt im Besonderen führt dich zu mir?«
»Brig hat mich geschickt, Sir, um Euch zu sagen, dass es stinkt. Dass Divvytown stinkt. Na ja, Divvytown stinkt immer, aber jetzt ist der Gestank besonders schlimm. Es stinkt nach nasser Asche.«
Da. Ein eisiger Finger schien sich in seinen Rücken zu bohren. Im selben Moment, in dem der alte Matrose die Worte aussprach, nahm Kennit es selbst wahr. In der geschlossenen Kabine konnte man den Geruch zwar nur schwach riechen, aber er war unverwechselbar. Es war der sattsam bekannte Gestank einer Katastrophe, ein Geruch, den Kennit schon lange nicht mehr in der Nase gehabt hatte. Eigenartig, wie ein Geruch Erinnerungen schärfer ins Gedächtnis zurückrufen konnte als jedes eigene Bemühen. Die Schreie in der Nacht, das Blut, glattes, klebriges Blut. Flammen, die in den Himmel schlugen. Nichts glich dem Gestank von brennenden Häusern, vermischt mit dem Geruch des Todes.
»Danke, Gankis. Sag Brig, ich komme sofort.«
Die Tür schloss sich hinter dem Seemann. Er war sehr beunruhigt gewesen. Divvytown kam einem Heimathafen für seine Mannschaft so ziemlich am nächsten. Sie wussten alle, was dieser Gestank bedeutete, aber Gankis hatte es nicht fertig gebracht, es auszusprechen. Divvytown war überfallen worden, und zwar vermutlich von Sklavenjägern. Das war für eine Piratenstadt nichts Ungewöhnliches. Vor Jahren, noch unter dem
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