Zauberschiffe 04 - Die Stunde des Piraten
vermutete, dass es Tränen der Freude waren. Ansonsten hätte sie vermutlich auch geschrieen. Also freute sich das Mädchen, ihn zu sehen. Was Kennit zu dem Schluss führte, dass er gefahrlos das Boot verlassen konnte.
»Reich mir deinen Arm!«, befahl er Wintrow. Der Junge sah blass aus. Es war sicher gut, ihm eine Aufgabe zu geben.
»Die ganze Stadt ist zerstört«, stellte er überflüssigerweise fest, als er über den Bootsrand kletterte und dem Piraten den Arm hinhielt.
»Einige halten das ja vielleicht für eine Verbesserung«, erwiderte der Piratenkapitän. Er stand im Boot und betrachtete angewidert das schmutzige Wasser. Dann trat er mit dem Holzbein voran über die Seite. Wie er befürchtet hatte, sank es tief in den weichen Schlamm ein. Nur die Schulter des Jungen bewahrte ihn davor, knietief einzusinken, und er hätte beinahe die Balance verloren. Im nächsten Moment war Etta an seiner Seite, packte seinen anderen Arm und stützte ihn, als er hinauskletterte. Sie wateten das schlammige Ufer hinauf, bis sie festen Grund unter den Füßen hatten. Kennit erspähte einen Felsen in dem Schlamm, blieb dort stehen, stemmte sein Holzbein fest dagegen und sah sich um.
Divvytown war beinahe völlig zerstört. Aus dem Grün des Dschungels, das sich bereits wieder in den verbrannten Ruinen zeigte, schloss er, dass der Überfall schon vor einigen Wochen stattgefunden haben musste. Doch nirgendwo gab es ein Zeichen, dass jemand angefangen hätte, irgendetwas wieder aufzubauen. Sie hatten Recht. Es war sinnlos. Wenn die Sklavenschiffe erst einmal eine Siedlung entdeckt hatten, würden sie immer und immer wiederkommen, bis sie alle Einwohner versklavt hatten. Divvytown, eine der ältesten Piratensiedlungen, war vernichtet. Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht mehr, wie oft ich sie gewarnt habe, ihnen geraten habe, zwei Wachtürme und einige Katapulte aufzustellen. Selbst ein Turm und ein Wachmann hätten genügt, um sie zu warnen, damit sie fliehen könnten. Aber niemand wollte auf mich hören. Sie konnten nur darüber lamentieren, wer das bezahlen sollte.«
Es bereitete ihm eine gewisse Genugtuung, Recht behalten zu haben. Niemand konnte abstreiten, dass er sie gewarnt hatte. Normalerweise waren seine Vorschläge auf blanken Hohn gestoßen oder hatten ihm den Vorwurf eingebracht, dass er die ganze Macht für sich wollte. Aber einige der Überlebenden starrten ihn trotzdem anklagend an. Ein Mann wurde knallrot vor Wut und deutete auf Kennit. »Ihr! Ihr seid dafür verantwortlich!«, schrie er. »Ihr habt uns die Chalcedeaner auf den Hals gehetzt!«
»Ich?« Kennits Wut flammte sofort auf. »Ich habe Euch doch gerade gesagt, dass ich es war, der Euch vor dem gewarnt hat, was jetzt passiert ist. Hättet Ihr auf mich gehört, gäbe es jetzt viel mehr Überlebende. Wer weiß? Ihr hättet die Angreifer vielleicht sogar zurückschlagen und ihre Schiffe kapern können!« Kennit schnaubte verächtlich. »Ich bin der Letzte, dem Ihr die Schuld für das, was hier geschehen ist, in die Schuhe schieben könnt. Wenn Ihr jemanden zur Verantwortung zieht, dann Eure eigene dickköpfige Sturheit!«
Der Ton, den er anschlug, war grundverkehrt. Kennit erkannte es beinahe augenblicklich, aber es war bereits zu spät.
Die Menge wogte auf ihn zu wie eine unaufhaltsame Flutwelle. Kennit durchlebte einen Moment das untrügliche Gefühl einer unausweichlichen Zerstörung. Im selben Moment lockerte Etta ihren Griff um seinen Arm. Verdammt! Würde sie weglaufen? Nein. Sie hatte nur ihre Hand auf den Griff ihres Messers sinken lassen. Damit konnte sie zwar gegen so viele nichts ausrichten, aber Kennit schätzte ihre Haltung. Er lockerte kurz seine Muskeln, nahm dann seine Hand von Wintrows Schulter und bedeutete dem Jungen, beiseite zu treten. Kennit hatte ebenfalls ein Messer. Er würde sein Leben teuer verkaufen. Dann grinste er gezwungen, stemmte das Holzbein gegen den Felsen und wartete auf sie.
Kennit war sprachlos vor Staunen, als der Junge ebenfalls einen Dolch zog, dazu noch einen sehr wertvollen, und vor ihn trat. Etta holte vernehmlich Luft und stieß sie dann amüsiert wieder aus. Kennit sah aus den Augenwinkeln ihr wildes, stolzes Lächeln. Es war ein einschüchternder Anblick. Er wusste sehr gut, dass sie es genoss, Männer in Stücke zu schneiden. Aber wenigstens stand sie auf seiner Seite. Er hörte das Platschen, als seine Männer sich hinter ihm formierten. Es waren nur vier Piraten mit ihm an Land gekommen. Und er
Weitere Kostenlose Bücher