Zebraland
Spitznamen wegen seiner abstehenden Ohren. Über den Knöchel seines Schussbeins hat er sich ein Bild von Dumbo, dem fliegenden Elefanten, tätowieren lassen, was dafür spricht, dass er neben einem Faible für Tattoos auch einen ziemlich schrägen Humor hat.
Als Dumbo zu seiner Rede ansetzen will, macht das Mikro ein furchtbar schrilles Geräusch. Alle halten sich die Ohren zu. Dumbo zuckt entschuldigend die Schultern. »Seid ihr jetzt wenigstens alle wach?« Laute Buhrufe. Er grinst und beginnt über die Wahlen für die Schülervertretung zu faseln.
Die Kandidaten hocken aufgereiht wie Hühner auf der Stange in der ersten Reihe. Phil sitzt am Rand und fixiert starr den Zettel mit seiner Rede.
Über ihnen wirft ein Overhead-Projektor den Ablauf der Vollversammlung an die Wand. Die Schrift ist viel zu klein, doch ich weiß auch so, dass Philipp erst am Schluss drankommt. Der Programmpunkt könnte nicht harmloser klingen: »Sonstiges«.
Ich blicke auf die große Uhr über der Tür, hinter der die Matten und Turngeräte verwahrt werden. Der Minutenzeiger wandert langsam, aber unerbittlich weiter.
Schließlich, die Hälfte der Schüler ist bereits kurz davor, ins Koma zu fallen, sagt Dumbo: »Ich weiß, ihr brennt schon darauf, wieder zurück in den Unterricht zu kommen. Aber vorher will Philipp von der Schülerzeitung noch was sagen. Philipp, kommst du?«
Phil erhebt sich langsam und tritt nach vorn ans Mikro. Zu seiner eigenen Hinrichtung, denke ich.
Anouk neben mir wirft ihm ein aufmunterndes Lächeln zu. Aber für Phil scheint die Welt um ihn herum nicht mehr zu existieren. Er starrt nur auf seinen Zettel und umklammert ihn wie einen Rettungsring.
Ein Seufzen geht durch die Turnhalle, Comics werden beiseitegelegt, Schüler, die vor sich hin gedöst haben, richten sich wieder auf. Es ist, als spürten sie die Spannung, die von Phil ausgeht. Als könnten sie seine Angst, seine Schwäche riechen. Dumbo zieht sich zurück.
Die Show kann beginnen.
»Ich habe eine Ankündigung zu machen«, beginnt Phil mit fester Stimme. »Hiermit lege ich mein Amt als Chefredakteur der Schülerzeitung nieder.«
Ich spreche die Rede mit, sage ihm die Wörter lautlos vor, wenn er stockt, als könnte ich ihn so vorwärtsziehen. Aber seinen Mund anzusehen und auf die Worte zu warten, die kommen müssen, kann Phil auch nicht helfen. So richte ich meinen Blick auf die Linien auf dem Hallenboden.
»Denn ich habe endlich eingesehen, dass dieser Posten mehr Wa-wahrheitsliebe, Mitgefühl und Me-mensch-l-lichkeit erfordert, als ich aufzubringen imstande bin.«
Mein Blick folgt den Linien. Rot für Basketball, Schwarz für Fußball. Die Linie, die das Spielfeld halbiert.
»Deshal b … deshalb soll die Periskop nun einen Chefredakteur bekommen, der dieser Aufgabe wü-wü-würdig ist«, bringt Phil heraus, als verrenke er sich an dem Wort fast die Zunge.
»Ja, und bitte jemanden, der besser Deutsch spricht als du!«, ruft eine Stimme aus der Menge. Unterdrücktes Gelächter. Dann erwartungsvolle Stille.
Mein Blick bleibt auf dem Punkt für den Elfmeter haften. »Zu meinem Nachfolger erkläre ich Carsten Döblin«, murmle ich vor mich hin. »Los, Phil, sag’s schon!«
Doch nicht einmal die berühmte fallende Stecknadel ist zu hören. Da weiß ich, dass er von seinem Zettel hochgeschaut hat.
Abseits.
Langsam erhebt sich ringsherum ein Gemurmel, das in die Luft steigt wie ein angriffslustiger Bienenschwarm.
Phil steht reglos da vorn, wie ein Tier im plötzlichen Scheinwerferlicht. Unfähig sich zu bewegen, bis es überrollt wird.
Und sie überrollen ihn.
Es beginnt mit Pfiffen und Buhrufen. Dann fangen ein paar pubertierende Achtklässler an, ein Fußballlied zu singen: »Du kannst nach Hause gehen, du kannst nach Hause gehe n …« Im nächsten Moment brüllt es die ganze Reihe.
Eine Lehrerin versucht sie mit wedelnden Armen zum Schweigen zu bringen, doch der Gesang springt über wie ein Funke auf einem trockenen Stoppelfeld. Flächenbrand.
Anouk springt auf und quetscht sich durch die Reihen, um nach vorn zu ihrem Freund zu kommen.
Phil steht mit hängenden Schultern und wachsbleichem Gesicht vor dem Mikro. Doch als er sieht, wie Anouk sich zu ihm durchkämpft, geht ein Ruck durch seinen hageren Körper.
»Zu-zu meinem Na-Na-Nach-f-f-folger er-k-k-kläre ich C-C-C-C-C-Carsten D-Döblin.« Er würgt die Wörter heraus, als bereite es ihm körperliche Schmerzen. »Wei l … weil er ein weit b-b-besserer Jou-Journalist und
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