Zebraland
mehr.«
»Vollversammlung?«, fragt Anouk alarmiert.
»Ach ja, hab ich das noch nicht erwähnt? Ich soll dem Döblin bei der V-V-Vollversammlung meinen Posten über-g-geben.« Phil versucht es ganz beiläufig zu sagen, doch sein Stottern verrät, wie aufgewühlt er ist. »Meine Abtrittsrede hat Mose mir fr-freundlicher-w-w-weise schon g-g-g-geschrieben.«
Er blickt mich auffordernd an. Gehorsam lese ich den Anfang der Rede vor: »Hiermit lege ich mein Amt als Chefredakteur der Schülerzeitung nieder. Denn ich habe endlich eingesehen, dass dieser Posten mehr Wahrheitsliebe, Mitgefühl und Menschlichkeit erfordert, als ich aufzubringen imstande bin.«
Ich lasse das Blatt sinken.
Vor meinem inneren Auge sehe ich Phil bei seinem letzten Referat. Ein Desaster.
Er ist ein echt guter Schüler und weiß meist auch auf schwierige Fragen eine Antwor t – wenn er auf seinem Platz in der letzten Reihe sitzt. Steht er vor der Klasse an der Tafel, sieht die Sache anders aus: Sobald ihn alle angucken, fängt er wieder an zu stottern. Er hasst es.
Zur Schüler-Vollversammlung kommt die ganze Schule. Sechshundert Nasen.
»Hier steht, wenn du den Wortlaut veränderst oder vorzeitig abbrichst, gilt die Aufgabe als nicht erfüllt. Willst du das wirklich durchziehen, Phil?«
»Wann hat man schon mal die Chance, sich vor der gesamten Schule zu blamieren?«, erwidert er zynisch. »Hey, meint ihr, ich hab Judith überredet, ihre A-A-Aufg-gabe zu erfüllen, um dann selbst zu k-kneifen? Keine Sorg-g-e, ich werde das d-d-durchziehen.«
Anouk sieht ihn mit großen, verängstigten Augen an. Wortlos läuft sie zu ihm hinüber und schmiegt sich an ihn, als suchte sie bei ihm Schutz. Dieses alberne Geschöpf.
Doch als Phil sie in die Arme nimmt, scheint es ihm seltsamerweise besser zu gehen. Ich habe schon öfter beobachtet, wie sich der Ausdruck seiner Augen verändert, wenn er Anouk ansieht. Das Grau scheint dann heller zu werden, freundlicher. Wie das Meer, wenn die Sonne daraufscheint. Ich frage mich, wie etwas so Schönes mich immer wieder so verletzen kann.
Jetzt richtet Phil sich zu seiner gewohnten Größe auf. »Alles wird gut. Ich verspreche es euch«, sagt er zu uns. Ohne das geringste Stottern. Wie hat Anouk das angestellt?
Plötzlich habe ich eine Stinkwut auf sie und auf Phil und sein bescheuertes Versprechen. Wie kann er so anmaßend sein? Wie kann er behaupten, dass alles gut werden wird?
Wir sind so weit von »gut« entfernt.
Ziggy
Z: »Wusstest du, dass das Muster der Streifen bei jedem Zebra unterschiedlich ist, Elmar?«
E: »Nö, Mohn.«
Z: »Ist aber so. Wie der Fingerabdruck eines Menschen. Wenn ein Zebra ein Verbrechen begehen würde, könnte man es anhand seiner Streifen identifizieren.«
E: »Aha.«
Z: »Ich hätte sein Muster gerne mit dem auf Yasmins Kopftuch verglichen. Vielleicht hätten sie ja übereingestimmt.«
E: »Wie jetzt, Mohn? Meinst du, Yasmin ist als Zebra wiedergeboren worden oder so’n Quatsch? ›Die Rückkehr des Zebras ‹ – das wär doch mal ’n cooler Name für so’n Splatterfilm!«
Z: »Ach, vergiss es einfach!«
Inzwischen hatte ich den Eindruck, dass das Zebra auf mich wartete. Jeden Nachmittag, wenn ich kam, stand es an der gleichen Stelle, ganz nah am Zaun. Seine dunklen Augen musterten mich, als wüsste es alles. War sein Blick nicht zu wach für den eines Tieres? Manchmal glaubte ich, tief in seinen Augen ein schelmisches Funkeln zu erkennen.
Yasmins Tagebuch trug ich immer bei mir. Vor Kurzem hatte ich angefangen, meine Träume von ihr hineinzuschreiben. Waren ja noch genügend Seiten frei.
Es kam mir so vor, als wären meine Träume und dieses Buch die einzigen Orte, an denen sie irgendwie weiterlebte.
D. hat mir erzählt, dass die Forscher sich immer noch darüber streiten, ob die Menschen in Schwarz-Weiß träumen oder in Farbe. Ich weiß nicht, ob ich in Deutsch oder in Türkisch träume.
Wenn ich bei den Großeltern zu Besuch bin, habe ich manchmal das Gefühl, die Sprache nicht richtig zu können. Es ist der Tonfall. Es ist das Lächeln beim Familienessen, das spannt wie ein Kleid, das nicht ganz passt. Es ist das winzige Teilchen, das fehlt, damit sich alles ganz selbstverständlich anfühlt.
Und hier in Deutschland ist es oft dasselbe. Wenn ich mit meinen Freundinnen zusammen bin, oder mit D.
Nicht schwarz, nicht weiß.
Gestreift.
Vielleicht sitze ich deshalb so gerne auf dieser Bank. Nicht nur, weil es unser Platz ist, der Platz, an dem D. und ich uns
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